Bewegt Euch
Tiergartens, der letzte, immer wieder erhebende Kilometer schließlich durchs Brandenburger Tor, am Hotel Adlon vorbei, die Linden entlang, bevorzugt auf dem Mittelstreifen. Ich bestimme meine Geschwindigkeit selbst, kein Stau zwingt mir Stillstand auf. Manchmal setze ich mich drei Minuten lang auf eine Bank. Zu selten leider.
Mir als Hypotoniker tut das monotone Strampeln gut. Die Morgenluft ersetzt die Kühlpads für die Augen, bilde ich mir jedenfalls ein. Die Gedanken hüpfen durch den Tag, ich lege mir Fragen, manchmal sogar Antworten zurecht. Gleiten in den Arbeitstag.
Ich schließe gerade mein Rad vor dem Café Einstein an, da hält ein Taxi. Christoph steigt aus, ein guter Freund. Wir wohnen in derselben Gegend. »Wir haben dich an der Urania überholt«, sagt Christoph, also kurz nach dem Start. Hatte ich gar nicht mitbekommen. Und jetzt waren wir exakt gleich schnell. Mit dem eigenen Auto wäre eine Viertelstunde für die Parkplatzsuche dazugekommen plus 15 Euro für den Strafzettel.
Aus dieser morgendlichen Viertelstunde lässt sich nun eine ganz schlichte Tabelle erstellen, eine schonungslose Bilanz, die Rad und Taxi vergleicht.
Ich will diese Wettfahrt wider Willen nicht überhöhen, aber sie ist ein gutes Beispiel für kluges Kombinieren. Mit geringem Aufwand erreiche ich auf vielen Ebenen meines Lebens eine deutliche Verbesserung. Ich fühle mich wohler – körperlich, seelisch, moralisch –, ich habe gespart und mir ein wenig gesellschaftliche Anerkennung verschafft, sollte jemand gesehen haben, wie ich schwungvoll vom Rad stieg.
Alles keine großen Dinge. Aber Schienen in einen ordentlichen Tag. Selbst wenn ich nicht trainiere heute, habe ich das Gefühl, mich bewegt zu haben. Und ich muss beim Frühstück keine Kalorien zählen.
Peinlichkeit genießen
Reckt und streckt euch, öffnet die Augen.
Motto der Sportexerzitien des katholischen Sportverbands DJK
Bewegen ist eine öffentliche Angelegenheit. Wer nicht gerade Tai-Chi im abgedunkelten Schlafzimmer übt, der setzt sich den Blicken seiner Mitmenschen aus. Manche Hobbyathleten bewegen sich nur aus diesem Grund: Sie existieren durch Publikum. Aber selbst der, dem nicht der Sinn nach darstellendem Bewegen steht, kann sich vor Interesse kaum schützen.
Kaum eine Erscheinung löst mehr Kommentarwut aus als ein Walker, der vom lieben Gott nicht großzügig beschenkt wurde mit schön anzuschauenden Körperteilen. Oder die Dame in Rosa auf dem Stepper. Oder Männer, die die Laufhose zwei Nummern zu eng gewählt haben. Bewegen gelingt den wenigsten Zeitgenossen auf ästhetische Weise. Und nichts tun die anderen lieber, als darüber herzuziehen. Aber Vorsicht: Jeder könnte der Nächste sein.
Routiniers versuchen gar nicht erst, elegant auszusehen. Die Übung des Tages lautet also: einfach mal öffnen, die verkrallten Finger zum Beispiel; und die Arme, die sich wie Schutzschranken vor der Brust verkeilen. Gutes Bewegen hat mit Lockerheit zu tun. Krampfhaft verfestigte Muskeln versehen ihren Dienst nicht rund. Die Welt ringsum ist uns einfach mal wurscht für diesen Moment.
Es mag esoterisch klingen, aber: Wer sich der Bewegung öffnet, wird durch die Bewegung geöffnet. Ist der Körper aktiv, sind alle Rezeptoren wacher als im Stand-by-Modus. Die Nase ist sensibler, die Haut empfindlicher, der Horizont weitet sich. Gespräche verlaufen beim Wandern, Laufen, Radfahren, Paddeln intensiver als am Küchentisch bei einem Glas Wein. Wenn Kognitionen tatsächlich durch physisch wahrnehmbare Faktoren verstärkt werden, dann bewegt sich einer, der locker durchs Wochenende federt, montags auch lockerer durchs Büro. Jedenfalls dann, wenn es der Muskelkater zulässt.
Liebe deine Fehler
Mit jedem deiner Fehler lieb’ ich dich mehr.
Philipp Poisel, »Mit jedem deiner Fehler«
Marlene wollte sich perfekt bewegen. Sie hatte in ein elegantes Outfit investiert, das den 360-Grad-Test vorm Spiegel bestanden hatte. Sie hatte ein Wochenende lang ein Seminar besucht, in dem optimale Lauftechnik gelehrt wurde. Sie hatte Fachbücher, YouTube-Videos und Magazine studiert. Und dann war sie völlig am Ende.
Den Tränen nahe gestand sie: »Ich habe solche Angst.« Aus unerklärlichen Gründen gelte ich als Laufexperte, obwohl ich alles falsch mache. Marlene suchte dennoch meine Hilfe, vielleicht auch deswegen, weil ich Fachbücher und Seminare nicht mehr ganz so ernst nehme.
Wovor hatte sie Angst? Sie hatte doch alles richtig gemacht, jede erdenkliche
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