Bewegt Euch
Information aufgesogen, viel Zeit und Geld investiert. »Ich habe Angst, dass meine Schrittlänge nicht optimal ist, dass ich zu wenig über den Vorfuß arbeite, dass ich die falschen Klamotten anhabe, wenn es regnet. Und vor allem habe ich Angst, dass mein Hintern zu dick aussieht in dieser Hose.« Aha. Ein klassischer Fall von Dynamophobie – Bewegungsangst.
Eines der Kernprobleme unserer Perfektionsgesellschaft ist der Mythos, es gäbe für alles ein Optimum. Auf Reklamepostern sieht Bewegen so wundervoll fehlerfrei aus: die Landschaft, die Kleidung, der Stil – alles perfekt. Selbst die zarten Schweißtropfen wirken, als seien sie digital ins Bild getupft. Sind sie auch.
Die Realität in deutschen Grünflächen sieht ungleich trister aus. Von Perfektion keine Spur. Millionenfach falsche Bewegungsabläufe und Modeverirrungen. Alle machen alles falsch. Und ich mittendrin.
Marlene fürchtet Fehler und verkörpert damit schlicht eine Eigenart der Deutschen. Nur in Singapur, so ergab eine internationale Panik-Studie, haben die Menschen noch mehr Angst davor, Fehler zu machen – die perfekte Selbstblockade.
Außer einer Handvoll Profisportler bewegt sich niemand optimal. Bewegen heißt Fehler machen. Und wer Fachliteratur liest, macht noch mehr Fehler, weil er auf Probleme hingewiesen wird, die er vorher gar nicht kannte. Wer aber das Gefühl hat, nichts als Fehler zu machen, wird verspannen vor lauter Angst und gar nicht erst starten. So wie Marlene.
Mein innerer Achim hat große Freude daran, mich pausenlos auf meine Fehler hinzuweisen. Sie sind wie alte Bekannte. Nervig, vertraut, immer da. Manchmal habe ich Lust, mit ihnen zu arbeiten. Dann bewege ich mich für eine Weile etwas konzentrierter. Manchmal sind sie mir egal. Und manchmal mache ich sie absichtlich, nur um zu sehen, was passiert. Zu schnell losrennen zum Beispiel: Ich weiß, dass ich das Tempo niemals halten kann. Aber ich will wissen, wie lange es gutgeht. Schaffst du nie, sagt Achim. Du kannst mich, sage ich.
Bewegen heißt für mich: Fehler machen und Scheitern als normalen Vorgang zu betrachten. Ich bin mit dem Kajak gekentert. Ich hätte bei einem Diskuswurfversuch fast zwei Zuschauer getötet. Ich habe mir beim Snowboarden die Rippe geprellt, bin vom Einrad gefallen und habe mir beim Kopfsprung vom Dreier Hämatome auf dem Oberschenkel eingehandelt. Ausprobieren ist ein zutiefst menschlicher Zug. Aber die moderne Gesellschaft will uns kleine Neandertaler binnen weniger Jahrzehnte in Maschinenbediener umformen, die fehlerfrei ihren Dienst versehen.
Unser archaisches Erbe hat uns schnelle Affekte mitgegeben, die moderne Welt will uns steuern. Die Natur hat uns Neugier geschenkt, der Fortschritt die Alltagspanik. Druck, Stress, Unwohlsein sind die unausweichlichen Folgen. Die moderne Welt überlastet uns, weil sie unseren Gefühlen und Bedürfnissen widerspricht.
Oft verschwinden neurotische oder depressive Symptome schon, wenn wir einfach nur nach draußen gehen, weg vom Sicherheitsleben des Sesshaften, zurück in den Unsicherheitsbereich des Nomadischen. Wer sich bewegt, betritt unweigerlich das Reich des Risikos: Was erwartet mich? Wer ist da? Was könnte ich falsch machen?
Ich bin ein laufendes Verbesserungspotenzial, dankbar für jeden Hinweis, aber überhaupt nicht in der Lage, alle Fehler gleichzeitig zu korrigieren.
Wer sich von seiner Fehlerangst befreien will, sollte vom »impact bias« wissen. So nennen Psychologen das Phänomen, wenn Menschen die Dauer und Intensität von Gefühlen überschätzen. Die Angst vor Fehlern ist demnach deutlich größer als das, was schließlich wirklich passiert – nämlich oft gar nichts.
Die Schwimmerin Britta Steffen hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung eindrucksvoll erklärt, warum sie die Unsicherheiten inzwischen zu schätzen gelernt hat: »Genau das ist das Coole! Dass du eben nicht weißt, was kommt. Dass du dich Aufgaben stellen musst, die die Gefahr in sich tragen, dass du danach tief enttäuscht bist. Aber die Erfahrung zu machen, dass es danach trotzdem weitergeht, und dass die Menschen, die dir wichtig sind, dann an deiner Seite sind – das ist eine tolle Erfahrung.«
Zugegeben, eine gute halbe Stunde im Park ist keine Olympia-Vorbereitung. Das Risiko zu scheitern ist vergleichsweise klein. Eben deswegen kann der Freizeitsportler problemlos einen Ausflug riskieren. Es wird weitergehen danach.
Reiß die Mauer ein
Mr. Gorbachev, tear down this wall.
Ronald Reagan,
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