Bewegungswissenschaft
unnötig, denn nichts ist dem Menschen neben seinem Körper so naturgegeben, wie die Koordination der eigenen Bewegung. Informatiker und Ingenieure konstruieren im Rahmen der schnellen Entwicklung der künstlichen Intelligenz, der Robotik und der Sensorik von Jahr zu Jahr zwar immer leistungsstärkere Roboter. Diese können Schachgroßmeister wie Karpow oder Kasparow besiegen, Kraftfahrzeuge zusammenbauen, Getränkedosen einsammeln, Fußböden säubern, Museumsführungen leiten, Boxkämpfe austragen oder Fußball spielen. Künstliche Wesen bedürfen jedoch weitgehend gleich bleibender Umweltbedingungen, deren vielschichtige Eigenschaften von ihren Konstrukteuren umfassend analysiert, strukturiert und zeitaufwändig programmiert werden müssen. Bislang kann kein Roboter autonom einfache Alltagsaufgaben bewältigen – wie für das morgendliche Frühstück ein Rührei zubereiten, inklusive Schinken schneiden und anbraten.
Bei sporttypischen Bewegungen bedenkt der Beobachter meist nicht, dass die zu Grunde liegenden Muskelkontraktionen der komplexen Integration einer Vielzahl ineinander greifender komplizierter Mechanismen und Funktionssysteme der Körperperipherie und des Hirns bedürfen. Bei der Kippe am Barren, dem Korbleger im Basketball oder dem Front Turn beim Snowboardfahren müssen die unbewussten Reflexe der Stützmotorik und die willkürlichen Bewegungsaktionen einer gemeinsamen zeitlichräumlichen Ordnung unterstehen. Darüber hinaus muss der Sportler während der Bewegungsausführung in angemessener Weise auf die vielfältigen Veränderungen der Umwelt reagieren. Nach neurobiologischen und psychologischen Kenntnissen fußt die Bewegungskoordination auf verschiedenen, parallel ablaufenden motorischen Kontrollmechanismen.
Die in Lektion 3 thematisierte Closed-Loop-Kontrolle (Bewegungsregelung) erzeugt auf der Grundlage sensorischer Rückmeldungsprozesse vor und während der Bewegungsausführung spezielle motorische Kontrollsignale. Bei schnellen Bewegungen stehen die sehr zeitaufwändig auszuwertenden sensorischen Informationen aus der Körperperipherie den entsprechenden Hirnzentren erst nach dem Bewegungsende zurVerfügung. Diesen Nachteil der Closed-Loop-Kontrolle gleichen spezielle neuronale Mechanismen aus, die keiner (Re-)Afferenzen während der Bewegungsausführung bedürfen.
Bei der in Lektion 4 ausführlich behandelten Bewegungssteuerung (Open-Loop-Kontrolle) generiert das Zentralnervensystem vor dem Bewegungsbeginn eine auf die äußeren und körperinneren Bedingungen zweck- und zeitgerichtete Bewegungsvorschrift, die ohne sensorische Rückmeldungen die Bewegungsausführung koordiniert. Zu den wichtigsten Open-Loop-Kontrollmechanismen zählen neben den im Hirn gespeicherten, willkürlich einsetzbaren Bewegungsprogrammen, die auf bestimmte Umweltreize mit festgeschriebenen Verhaltensweisen reagierenden, unbewussten motorischen Reflexe und Bewegungsautomatismen. Ihre Hauptaufgaben umfassen die Kontrolle der Körperhaltung (z. B. Gleichgewichtsregulation) und den Schutz vor organismischen Überbeanspruchungen (z. B. Beugereflex, Dehnungsreflex; vgl. Kap. 3).
1 Was ist von dieser Lektion zu erwarten?
Über die Motorik des Menschen haben sich in der Neuroanatomie, der Biologie, der Psychologie, der Informatik, der Robotik und der Bewegungswissenschaft vielfältige Kenntnisse angesammelt, die für das Verständnis der zentralnervösen Strukturen, Mechanismen und Funktionsprozesse der willkürlichen Bewegungskoordination relevant erscheinen. Lektion 4 greift bedeutsame Aspekte der zentralnervösen Bewegungsorganisation auf: Was zeichnet die Open-Loop-Bewegungskontrolle aus? Welchen Hirnstrukturen untersteht die Willkürmotorik? Welche neuronalen Mechanismen kontrollieren sporttypische Bewegungen? Wie repräsentiert das motorische Gedächtnis willkürliche Bewegungen? Wie werden Bewegungsprogramme organisiert? Inwieweit arbeiten sensorische Rückinformationen und motorische Programme bei der Bewegungskontrolle zusammen?
Nach der Erklärung der wichtigsten neurobiologischen Mechanismen der Open-Loop-Bewegungskontrolle – Bewegungsprogramme, motorische Reflexe und motorische Automatismen (Kap. 2) – veranschaulicht Kapitel 3 die zentralen Komponenten eines Open-Loop-Systems an der Verkehrslenkung durch eine Lichtzeichenanlage und der menschlichen Bewegungssteuerung. Mit Kapitel 4 folgt ein Überblick über den neurobiologischen Wissensstand hinsichtlich der zentralnervösen Strukturen und
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