Beweislast
abgestellt, um die paar hundert Meter über die Platzgasse zum altehrwürdigen Gerichtsgebäude zu gehen. Ulm präsentierte sich rau und kalt. Nur die Blumenrabatte vor dem Seiteneingang erinnerten daran, dass eigentlich Frühling war. Häberle drückte die schwere, meterhohe und Respekt einflößende Tür nach innen, ließ die folgende Schwingtür pendeln und stieg die Steintreppen zum Flur hinauf. Wie oft mochte er schon hier gewesen sein? Der Geruch des Gebäudes war ihm vertraut, die Muster des Steinfußbodens, vor allem aber die Architektur aus dem Ende des vorletzten Jahrhunderts. Sie war auch heute noch dazu angetan, jedem Besucher etwas von der Würde eines Gerichts zu vermitteln. Ganz anders als diese modernen, seelenlosen Zweckbauten, wie etwa beim Landgericht in Stuttgart, wo in fensterlosen Sälen ein Recht gesprochen wurde, das dort so unendlich weit vom Volke entfernt zu sein schien. Hier in Ulm aber war zumindest die Atmosphäre freundlicher, dachte Häberle, als er über den westlichen Treppentrakt ins erste Obergeschoss stieg, das dem unteren glich wie ein Ei dem anderen. Nur, dass sich in der Mitte des lang gestreckten Gebäudes, wo die zentral gelegene und zweigeteilte Steintreppe vom Haupteingang hochkam, jener Saal befand, in dem die schicksalsschweren Urteile gesprochen wurden.
Häberle durchschritt den langen Gang, in dem rechts eine Reihe von Fenstern den Blick auf den tristen Backsteinbau der Untersuchungshaftanstalt freigab. Als sich der Kommissar dem Schwurgerichtssaal näherte, erkannte er, dass gegenüber des Eingangs auf den weißen Schalenbänken an der Balustrade einige Personen saßen. Zeugen oder Angehörige – er konnte sie nicht zuordnen. Die Uhr über der Tür zeigte 14.15 Uhr. Er war eine Viertelstunde zu früh, wollte sich aber trotzdem bemerkbar machen. Häberle zog die Tür nach außen auf, machte einen Schritt in den Saal, in dem gerade Hudelmaier als Zeuge vernommen wurde, und signalisierte dem Vorsitzenden, dass er da sei. Muckenhans gab ihm zu verstehen, dass er draußen warten solle.
Es dauerte noch über eine halbe Stunde, bis der Kommissar hereingerufen wurde. Er nahm am Zeugentisch Platz, gab seine Personalien bekannt und wurde, wie er es schon tausend Mal getan hatte, den übrigen Formalitäten gerecht. Muckenhans ließ sich zunächst ausführlich über den Verlauf der Ermittlungen und über das Ergebnis zu Ketschmars Speichel berichten. Die Drohbriefe wurden ebenso angesprochen wie der Lackschaden an dem Fahrzeug des Angeklagten.
»Nun hat es aber eine neue Entwicklung gegeben«, schwenkte Muckenhans schließlich nach 45 Minuten um. »Ein Mann, den wir gerne auch als Zeugen hier gehabt hätten, ist als vermisst gemeldet.«
»Richtig«, bestätigte Häberle. »Und er ist bis heute nicht aufgefunden.«
»Sind Sie der Meinung, dies könnte etwas mit unserem Fall zu tun haben?«
»Denkbar ist alles, aber konkrete Beweise dazu haben wir nicht. Es gibt da draußen einen alten Bauernkrieg, wie die Kollegen sagen – einen über Generationen schwelenden Streit zwischen dem jetzt vermissten Eugen Blücher und diesem Steinberghof. Inwieweit dies mit seinem Verschwinden zu tun hat, entzieht sich momentan unserer Erkenntnis.«
Häberle brauchte auf seine mitgebrachten Akten nicht zurückzugreifen. Er konnte die Fragen aus dem Gedächtnis beantworten. Dass man zwar dem Thema Schwarzarbeit nachgegangen sei, aber nicht konkret habe feststellen können, in welcher Weise der ermordete Grauer damit zu tun hatte. Dass wohl die Firma Pottstett-Bau mal ins Fadenkreuz der Ermittler geraten sei, doch auch dazu habe sich wohl nichts Greifbares ergeben. Und dass gegen Herrn Eckert in diesem Fall keinerlei Verdachtsmomente vorlägen – bisher jedenfalls. »Wie dürfen wir das verstehen?«, hakte Muckenhans sofort nach.
Häberle sah zu Manuel hinüber, der ihm aufmunternd zunickte. »Es gibt diese Tonbandaufzeichnung, von der das Gericht sicher weiß«, erklärte der Kommissar und blickte sich fragend um. »Die Aufzeichnung von dem Anrufbeantworter.« Er berichtete von der Frauenstimme, die ihm der Anwalt am Wochenende vorgespielt habe.
Die Juristen nickten wissend. Es folgte eine zunächst ungeordnete Diskussion der Juristen über den Umgang mit dieser Aufzeichnung. Schließlich beantragte Traknow ein Sprachgutachten, mit dem die unbekannte Stimme mit jener von Eckerts Lebensgefährtin verglichen werden sollte. Der Staatsanwalt hielt dies für nicht notwendig, da der Angeklagte
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