Beweislast
zusammensaß und über seinen gestrigen Auftritt vor der Schwurgerichtskammer berichtete. »Heute sind die Plädoyers, morgen wollen sie das Urteil verkünden.«
»Und unsere Nachermittlungen?«
»Nichts. Sei letztlich unerheblich, ob im Hintergrund was mit Schwarzarbeit gelaufen sei. Alles ist unerheblich. Die klammern sich ans DNA-Gutachten und konzentrieren sich auf alles, was dies bestätigt. Vielleicht haben sie damit ja recht. Vielleicht sind wir es, die uns verrennen – bloß, weil jetzt zufällig noch der alte Blücher verschwunden ist.«
»Und dass dessen Neffen in irgendeiner Weise in die Schwarzarbeitergeschichte verstrickt ist, interessiert auch niemand?«
Häberle schüttelte den Kopf. »Was glauben Sie, wie der Anwalt kämpft! Ist ja schließlich sein Schwiegervater, um den es geht.« Er wollte nicht länger drüber reden und keine Zeit verlieren. »Und was hat sich hier ergeben?«
»Wieder Fehlanzeige. Keine Spur von Blücher. Wir haben die Suche sogar aufs Ottenbacher Tal ausgedehnt und bis zum Stuifen rüber gesucht. Nichts.«
»Wenn wir davon überzeugt sind, dass die ganze Geschichte stinkt, dann haben wir noch den heutigen Tag, es zu beweisen.« Häberle sprang auf. »Bevor ich aber noch ein ganz großes Ding anleiere, möglicherweise ohne Staatsanwalt und Richter, will ich noch etwas genau wissen.« Seit Tagen schon beschäftigte ihn eine Idee, die immer konkretere Formen annahm. Und es schien ihm so, als würde eine innere Stimme ständig lauter. Unweigerlich musste er an seine Frau Susanne denken, die sich vor einigen Monaten mit Engelskontakten befasst hatte. Ihm war dies zwar ein bisschen suspekt erschienen, aber so ganz wollte er dies nicht abtun. Engel, so hatte Susanne ihm nach einem Vortrag berichtet, könnten einem in allen Lebensbereichen in unterschiedlicher Form helfen. Als innere Stimme – oder in Gestalt eines unerwartet auftauchenden Menschen, der einem zufällig helfe. Häberle musste sich eingestehen, dass ihn so eine innere Stimme immer wieder an seine Idee von vor einigen Tagen erinnerte. Und vielleicht, wer weiß, würde er für Ketschmar jene Engelsgestalt sein, um die dieser in den langen zermürbenden Gefängnistagen betete, zusammen mit seinen Angehörigen?
»Ist was?«, fragte Linkohr plötzlich, nachdem sein Chef viel zu lange wortlos dagestanden war, tief in Gedanken versunken.
»Kommen Sie mit«, entschied der Kommissar und eilte aus dem Büro.
Ketschmar hatte nicht geschlafen und nichts gegessen. Beinahe hätte er gestern Abend nach seiner Rückkehr in der Zelle mit den beiden Mithäftlingen Streit angefangen, doch erstens war er viel zu geschwächt und zweitens wäre er wohl niedergeprügelt worden – ohne auf Hilfe der Wachtmeister hoffen zu können. Stattdessen hatte er sich widerspruchslos auf seiner Liege verkrochen und gebetet. Ja, so viel, wie in diesen Wochen, hatte er nie in seinem Leben gebetet. Wenn es eine große Macht und Kraft gab, von der die Religionen der ganzen Welt berichteten, egal, wie sie ihren Gott auch nannten, dann durfte sie es doch nicht zulassen, dass er den Rest seines Lebens wie ein Tier gehalten wurde. Aber was war das für eine Macht und Kraft, für ein Universum, das sogar den Holocaust zugelassen hatte? Ketschmars Gedanken rotierten. Er konnte sich auf nichts mehr konzentrieren.
Als er jetzt wieder in den Schwurgerichtssaal geführt wurde, roch er nach Schweiß. Längst hätte er duschen sollen, doch diese Prozedur im Keller der U-Haft, wo sie zu fünft nackt nebeneinander unter den alten Duschköpfen standen, beäugt von einem Aufpasser, das war ihm zuwider gewesen – schon gar am Morgen eines Tages, an dem er sich anhören musste, was der Psychiater und der Staatsanwalt über ihn zu sagen hatten. Nichts Gutes jedenfalls. Er kannte das Gutachten des Mediziners, hatte es schon viele Male gelesen.
Zunächst gings aber um seine persönlichen Verhältnisse, die Muckenhans beleuchten wollte. Vor fast 55 Jahren in Stuttgart-Bad Cannstatt geboren, als Arbeiterkind. Grundschule, Realschule, die damals noch Mittelschule hieß, lustlose Kaufmannslehre, dann umgesattelt auf Technik – schließlich durch zähes Durchbeißen der Hochschule Bauingenieur geworden, sogar ziemlich erfolgreich. Ehe, eine Tochter, Haus gebaut. Dann der Absturz ins Bodenlose. Ketschmar hatte sich den chronologischen Ablauf notiert. »Ich stand vor dem Nichts«, sagte er, als er auf den Verlust seines Jobs zu sprechen kam. Das war jetzt ein Jahr her.
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