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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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umher. Versuchte den Direktor oder den Klassenlehrer zu sprechen, wollte in Erfahrung bringen, wo Raffaels Zimmer war und wo sie erwartet wurden.
    Aber offensichtlich erwartete sie niemand, und Raffael hoffte sehnlichst, sie würden einfach wieder ins Auto steigen und wegfahren. Nach Hause. Nach Friesland. Er wünschte sich nichts mehr, als wieder dort zu sein.
    Bitte, bitte, bitte nehmt mich wieder mit, ich will hier nicht hin, ich will nicht allein sein, ich will bei euch sein, ich hab doch nur noch euch, Mama und Papa, bitte gebt mich nicht weg, bitte verlasst mich nicht, bitte, bitte, bitte.
    Vielleicht hätte es geholfen, wenn er es ihnen gesagt hätte, aber er bekam keinen Ton heraus, sondern flehte nur stumm.
    Sein Vater kam wieder. Er war gestresst, schwitzte, und sein Gesicht war gerötet.
    »Wir müssen in den zweiten Stock«, keuchte er. »Zimmer 214. Da sitzt der Direktor.«
    Raffael fing an zu weinen. Er wollte nicht in den zweiten Stock, er wollte nicht zum Direktor, er wollte nur nach Hause und mit seinen Eltern zusammenbleiben.
    Aber sie zerrten ihn mit sich.
    Der Direktor hieß Krüger, Dr. Krüger, war sehr mager, und sein freundliches, noch ziemlich junges Gesicht passte so gar nicht zu seinen schlohweißen Haaren.
    So war er altersmäßig überhaupt nicht einzuordnen, aber es erhöhte seine Attraktivität. Und dessen war er sich bewusst. Bei jedem Satz, jeder Bewegung, bei allem, was er tat.
    Seine Eltern und Dr. Krüger sprachen nun über alle möglichen Dinge. Über die Kosten, über Besuchszeiten, über die Wochenenden, über Taschengeld, über Sport, über Schulaufgabenbetreuung, über gesunde Ernährung, über Freizeit, über die Möglichkeit, nach Hause zu telefonieren, und tausend andere Dinge.
    Raffael hörte nicht hin.
    Er flehte nur: Bitte, lieber Gott, hol mich hier weg, lass eine Bombe explodieren oder meinetwegen auch etwas nicht so Schlimmes, weil er aus dem Religionsunterricht wusste, dass man sich nichts Böses wünschen durfte, bitte lass ein Wunder geschehen und mach, dass sie mich nicht hierlassen, dass ich wieder nach Hause darf. Warum wollen sie mich nicht, warum muss ich weg, lieber Gott, warum darf ich nicht zu Hause sein wie andere Kinder auch, warum nicht? Bitte, bitte, bitte.
    Dr. Krüger nahm seine Brille ab und wandte sich zum ersten Mal an Raffael.
    »Ich habe gehört, du hast deine Schwester verloren und bist sehr allein. Freust du dich darauf, mit einem anderen Jungen in einem Zimmer zu wohnen?«
    Raffael reagierte nicht.
    »Du kannst hier viel Sport machen, wenn du willst. Reiten, Tennis spielen. Oder auch rudern. Meinst du, du hättest Spaß daran?«
    Raffael reagierte nicht.
    Lasst mich hier nicht allein!, schrie er in Gedanken. Bitte, bitte, bitte nicht!
    »Möchtest du erst mal dein Zimmer sehen? Es wird dir bestimmt gefallen. Und mit deinem Zimmergenossen wirst du dich ganz bestimmt gut vertragen.«
    Seine Mutter strich ihm übers Haar und sah ihn an, als wollte sie sagen: »Komm, Schatz, es wird alles gut, glaub mir«, aber auch sie sah traurig aus.
    Sie verließen das Büro des Direktors. Und er musste folgen. Konnte ja nicht abhauen, denn weit wäre er nicht gekommen.
    Als Kind hatte man keine Chance. Man war den Erwachsenen ausgeliefert und vollkommen hilflos.
    Das Zimmer, das sie ihm zeigten, war klein. Viel kleiner als sein Zimmer zu Hause. Es gab Bilder an den Wänden und bunte Bettwäsche, aber es erinnerte ihn dennoch an ein Krankenhaus, an die Kinderpsychiatrie in Heide. Vor dem Fenster waren ein Parkplatz und ein verwaistes Volleyballfeld und nicht die Fennen von Bauer Sörensen.
    Es war alles so unendlich trostlos.
    Auf dem Bett am Fenster saß ein Junge. Genauso alt wie er, aber er war ein wenig dicker, seine Haare waren kürzer, und er trug eine Brille. Er grinste schief vor Verlegenheit.
    »Holger, das ist Raffael, dein neuer Bettnachbar«, sagte Direktor Krüger, »ich bin sicher, ihr werdet euch gut verstehen.«
    »Hi«, sagte Holger unsicher, und Raffael schwieg.
    Offensichtlich war auch für Direktor Dr. Krüger der kleine Raffael kein so ganz einfacher Neuzugang. Er wusste zwar, dass er schon seit längerer Zeit nicht sprach, aber dass er so gar nicht, wirklich auf nichts reagierte, hatte er nicht erwartet.
    »Hier an der Wand, das ist dein Bett, in diesem Schrank kannst du deine Sachen unterbringen, hier hast du einen kleinen Schreibtisch, an dem du Briefe nach Hause schreiben oder Schularbeiten machen kannst, und wenn du mehr Platz

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