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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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änderte sich auch nichts, als sein Vater ihn ebenfalls in die Arme schloss.
    »Min Jung«, hauchte Karl, und auch ihn übermannte die Rührung, »min Jung, willkommen to Hus.« Er wischte sich übers Gesicht. »Ich zieh mir nur schnell was an.«
    Karl ging nach oben in den Turm und Christine in die Küche, um einen Kaffee zu machen.
    Als sie nach wenigen Minuten zurück auf die Terrasse kamen, war Raffael verschwunden.
    Er lief schnell. Rannte fast. Es rauschte in seinen Ohren, als stünde er im Sturm an einer Mole bei tosender See.
    Jahrelang hatte er nicht mehr daran gedacht. Es war alles weg, vorbei, als sei es nie geschehen. Aber als seine Eltern eben vor ihm standen und er in ihre Gesichter sah, war es wieder da.
    Es stürmte wieder auf ihn ein, als wäre es gestern gewesen.
    Sein Blut pulsierte hinter seiner Stirn, ihm wurde schwindlig, er musste stehen bleiben und sich übergeben. Aber da kamen nur Restalkohol und bittere Galle.
    Er ging weiter. Nach San Rocco.
    Um die Gedanken loszuwerden, warf er sich auf die Erde, starrte in den Himmel, aber die langsam vorüberziehenden Schäfchenwolken wurden immer schneller, immer schneller, bis sie sich drehten wie der Trichter eines Tornados.
    Er schloss die Augen, weil er befürchtete, sein Kopf könnte platzen.
    Schwerfällig wie ein alter Mann stand er schließlich auf und ging weiter. Was er jetzt brauchte, war nichts weiter als Alkohol. Ströme von Alkohol, um zu vergessen.
    Als er sein Zimmer in San Rocco erreichte, war es erst kurz vor acht. Die Bewohner des Ortes, die um diese Zeit im Dorf unterwegs waren, gingen zum Bäcker, manche saßen schon auf der Piazza und tranken ihren ersten Kaffee.
    Er betrat den kleinen Laden. Die Signora hinter dem Tresen lächelte, als er hereinkam.
    »Buongiorno«, sagte sie freundlich.
    »Buongiorno«, murmelte Raffael geistesabwesend und setzte sich.
    »Un caffè?«, fragte sie, und Raffael nickte.
    Sein Blick irrte umher, er wusste nicht, was er hier wollte. Auf ein Brötchen oder ein Croissant hatte er keinen Appetit, obwohl er den sauer-bitteren Geschmack des Erbrochenen noch auf der Zunge hatte.
    Dann fiel sein Blick auf die Flaschen vor der Spiegelwand, dem Tresen gegenüber.
    Er würde das Regal leer trinken. Das war es. Er würde links anfangen und rechts aufhören, wenn alle Flaschen leer waren. So ein Tag war lang. Ein oder zwei Flaschen Wein reichten schon lange nicht mehr zum Vergessen.
    »Un panino?«, fragte die Signora.
    Raffael schüttelte den Kopf und zeigte auf eine Flasche Amaro ganz links im Sortiment. Ein süßer, schwerer Kräuterlikör, das war jetzt zum Frühstück genau das Richtige.
    Die Signora war irritiert. Zu so früher Stunde gab es so einen Wunsch eigentlich nie.
    Sie nahm betont langsam, weil sie immer noch glaubte, ihn nicht richtig verstanden zu haben, ein Likörglas aus dem Schrank und die Flasche zur Hand.
    »Nein, nein, nein.« Raffael winkte ab. »Alles. Tutto. Quanto costa?«
    Jetzt verstand die Signora, aber sie war noch verwirrter als vorher. Die Leute kauften oft Flaschen in der Bar, um sie zu verschenken, aber bei einer angebrochenen Flasche war das unmöglich. Sie überlegte, und ihr Mund wurde ganz schief dabei.
    »Venti euro«, sagte sie vorsichtig.
    Raffael nickte. In dieser Bar kostete anscheinend alles venti euro . Zwanzig Euro die Übernachtung, und jetzt auch der Schnaps.
    Er bezahlte, nahm die Flasche und ging hinauf in sein Zimmer.
    Als er auf den Balkon trat, fühlte er sich fast wie zu Hause. Es war schon komisch, wie schnell er sich an diese paar Quadratmeter und den Blick zum Castelletto gewöhnt hatte.
    Er setzte sich und nahm einen ersten Schluck. Seine Speiseröhre brannte, als würde er sie mit Säure verätzen, doch beim zweiten Schluck ging es besser, und beim dritten wurde ihm warm.
    Aber das Fernglas nahm er nicht zur Hand.
    Solange er die Bilder nicht loswurde, konnte er nicht.
    Die Bilder von damals. Im Internat.

41
    1996
    Er stand mit seiner Mutter in der großen, Respekt einflößenden Eingangshalle der Schule, und sie warteten. Wussten nicht, ob gleich jemand kam oder ob sie irgendwohin gehen mussten.
    Raffael hatte fürchterliche Angst, dass ihn einfach jemand nehmen und wegführen würde, einfach so, und er würde seine Mutter nie wiedersehen.
    Aber sie hielt seine Hand, ganz fest, als stünden sie bei Sturmflut auf dem Deich und er könnte weggeweht werden, wenn sie ihn nur eine Sekunde losließ.
    Ihre Hand war eiskalt.
    Sein Vater rannte im Gebäude

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