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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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drückte.
    Die Tränen schossen Raffael in die Augen. Dr. Krügers Griff lockerte sich, Raffael hob den Kopf, schnappte nach Luft. Bei jedem harten Stoß wurden die Schmerzen schlimmer.
    Was hatte er getan, dass der Direktor ihm so wehtun musste?
    Und dann war es plötzlich vorbei.
    Der Direktor stand auf, zog sich die Hose wieder an und drehte Raffael zurück auf den Rücken.
    Raffaels verängstigtes Gesicht war tränenverschmiert.
    »Du bist ein tapferer Junge«, flüsterte der Direktor. »Und das muss auch so sein, wenn man hier im Internat und in der Schule Erfolg haben will. Du darfst niemandem erzählen, dass ich zu dir gekommen bin, hörst du? Nur so können wir Freunde bleiben, dann stehst du unter meinem persönlichen Schutz, und dir kann nichts passieren. Hast du das verstanden?«
    Raffael nickte. Aber in Wahrheit hatte er nicht verstanden, was der Direktor meinte.
    »Du bist etwas ganz Besonderes, Raffael. Und deswegen komme ich zu dir. Aber wenn du etwas erzählst, muss ich sehr, sehr böse werden. Weil dann die anderen Kinder denken, dass ich dich denen vorziehe. Ja?«
    Raffael nickte wieder.
    »Gut. Dann vertraue ich darauf, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
    Der Direktor stand auf und flüsterte: »Gute Nacht, Raffael, schlaf schön«, und war so schnell und lautlos wieder verschwunden, wie er gekommen war.
    Raffael weinte die ganze Nacht.
    Weil er so unendlich allein war und weil er niemanden lieben konnte.
    Der Direktor kam zweimal in der Woche zu Raffael, und Raffael schwieg nach wie vor.
    Eines Nachts kurz nach Weihnachten ging wieder lautlos die Tür auf, der Direktor schob sich wie ein Schatten ins Zimmer, aber diesmal setzte er sich nicht auf Raffaels Bett, und er stellte sich auch nicht vor ihn hin, damit Raffael ihn mit seinem Mund im Sitzen gut erreichen konnte, was er ab und zu tat. Nein, er ging zu Holger und setzte sich zu ihm.
    Raffael stellte sich schlafend, aber er bekam haarklein mit, was geschah.
    Es war alles genauso wie bei ihm.
    Als der Direktor wieder verschwunden war, weinte Holger, so wie Raffael am Anfang geweint hatte. Und Raffael setzte sich zu ihm und nahm ihn in den Arm.
    So saßen sie die ganze Nacht, bis sich Holger gegen Morgen beruhigte und noch anderthalb Stunden, bis zum Wecken, in einen unruhigen Schlaf fiel.
    Das war der Beginn ihrer Freundschaft.
    Holger kannte einen aus der Zwölften, Emil Zonker, der verkaufte Schnaps an die Kleinen. Und Holger hatte immer Geld, da ihn seine Eltern zwar nicht besuchten, aber regelmäßig Geld schickten. Und genauso regelmäßig kaufte Holger von nun an Schnaps und Likör.
    Die beiden Jungs begannen, sich jedes Mal zu betrinken, wenn der Direktor da gewesen war. Und mit Holger redete Raffael. Holger war sein Freund, sein Seelenverwandter, sein Bruder.
    Holger erlebte und durchlitt dasselbe wie er.
    Manchmal kamen sie schwankend und mit Fahne zum Frühstück und danach in die erste Stunde, aber kein Lehrer sagte etwas. Niemand durchsuchte ihr Zimmer, es war, als wäre nichts geschehen und als wären sie gar nicht da.
    Bis heute fragte sich Raffael, wie das möglich war.
    Die Hälfte des Kräuterschnapses hatte er bereits getrunken, aber jetzt nahm er doch das Fernglas zur Hand.
    Seine Eltern standen zusammen mit seiner kleinen Schwester im Hof und redeten aufgeregt miteinander. Sein Vater machte eine große, ausladende Geste, indem er in die Ferne sah und auf mehrere Punkte in der Landschaft wies. Vielleicht sagte er so etwas wie: »Ich hab ihn jetzt überall gesucht, er ist nicht mehr da. Keine Ahnung, warum er wieder gegangen ist, wir haben ihm doch nichts getan!«
    Seine Mutter raufte sich die Haare. Sie sah ziemlich verzweifelt aus.
    In diesem Moment kam die Kinderfrau, begrüßte Karl, Christine und die Kleine, sagte ein paar Worte und ging dann zusammen mit seiner Schwester in Richtung Pool.
    Richtig. Die wunderschöne Schlampe hatte er ja vollkommen vergessen.
    Ein paar Stunden saß er bewegungslos auf seinem Balkon, nahm aber das Fernglas nicht ein einziges Mal zur Hand.
    Als die Flasche leer war, verstaute er das Fernglas und seine übrigen Habseligkeiten in seiner Tasche und verließ das Zimmer.
    »Es war schön bei Ihnen«, sagte er auf Englisch zu der Signora im Geschäft. »Ich ziehe aus. Aber vielleicht komme ich ja irgendwann noch mal wieder.«
    Sie lächelte, so wie sie immer lächelte, er zahlte und verließ den Ort.

42
    Sie sah schon an der angespannten Haltung, mit der Vasco vor dem Fernseher saß, dass

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