Bewusstlos
Stella?«
Stella zuckte die Achseln. Begeistert sah sie nicht aus.
»Wir wissen ja noch gar nicht, ob Paola nicht doch wiederkommt. Wer weiß, was geschehen ist? Jedenfalls muss es einen Grund haben, dass sie so einfach wegbleibt. Ich finde, du bist da ein bisschen voreilig, Maria.«
»Aber ich meine – bis sie wiederkommt …« Maria war jetzt verunsichert.
»Sicher. Und genau das machst du ja schon, oder nicht?«
Maria sah betreten zu Boden und schwieg.
»Ich müsste mal auf die Toilette«, nuschelte sie undeutlich.
»Kein Problem, geh nur. Ich bin ja hier.«
Wehmütig dachte Christine daran, dass sie so schnell keine Kinderfrau mehr finden würde, die so ein geschliffenes und deutliches Italienisch sprach wie Paola.
»Wo ist mein Bruder?«, fragte Stella und wippte mit ihren Füßen derart hin und her, dass ihr ganzer Körper in Bewegung war.
»Ich weiß es nicht, Schatz. Er ist gestern mit einem Freund weggegangen, aber noch nicht zurück.«
»Kommt er wieder?«
»Ich hoffe es.«
»Aber das macht man doch nicht, einfach so wegbleiben und nichts sagen, oder?«
»Nein. Das gehört sich eigentlich nicht.«
»Kriegt er Ärger, wenn er wiederkommt?«
»Er ist erwachsen, Stella. Er kann machen, was er will.«
»Kann ich auch machen, was ich will, wenn ich erwachsen bin?«
»Sicher. Aber trotzdem gehört es sich, dass man seinen Eltern oder Freunden sagt, wo man ist.«
»Wann bin ich denn erwachsen?«
»Das dauert noch lange. Noch zwölf Jahre.«
»Wohne ich dann noch hier?«
»Das weiß ich nicht, Spatz. Aber warum fragst du?«
»Weil ich nicht so weit weg von dir sein will wie mein Bruder«, brach es aus Stella heraus, und sie krabbelte auf Christines Schoß und schmiegte sich an sie.
Christine streichelte ihr den Rücken und hätte heulen können.
53
Am Abend gegen zehn saß Raffael auf der Terrasse und war bester Laune, als Christine und Karl in den Hof kamen.
»Wo wart ihr denn?«
»Wir haben einen kleinen Abendspaziergang gemacht, und jetzt wollen wir noch etwas essen. Du auch?«
»Ja, klar. Warum nicht.«
Der Tag mit Gianni hatte Raffael gutgetan. Er war mit lauter Dingen konfrontiert worden, die er überhaupt nicht kannte, und er hatte die unerklärlichen blutigen Klamotten in seinem Bett vollkommen vergessen.
Gianni und er hatten lange geschlafen. Bis kurz vor elf. Dabei hatte er nicht damit gerechnet, in diesem grausigen Zimmer auf der harten Erde – trotz Wolldecke – länger als drei Stunden am Stück schlafen zu können.
Und dann wachten sie am Vormittag fast gleichzeitig auf.
Direkt neben dem Fenster, unterhalb einer verklebten Steckdose, stand eine winzige Espressomaschine, die er am Tag zuvor gar nicht bemerkt hatte, weil sie hinter einem Bücher- und Zeitschriftenberg verschwunden war. Er begriff erst, dass Gianni es wahrhaftig schaffte, in dieser Räuberhöhle Kaffee zu kochen, als ihm der Duft von gemahlenen Bohnen und heißem Kaffee in die Nase stieg und er Gianni am Boden hocken und irgendetwas tun sah.
Raffael sprang in seine Jeans.
»Was fehlt noch?«, fragte er enthusiastisch. »Milch, Marmelade, Brötchen oder Käse?«
»Panini.« Gianni grinste. »Wenn du rauskommst rechts, dann wieder rechts, und dann ist zwei Häuser weiter ein Panificio. Eine Bäckerei.«
Raffael spurtete los.
Zehn Minuten später saßen sie vor dem weit geöffneten Fenster und frühstückten auf dem Fensterbrett.
»Ist das geil«, meinte Raffael. »Und das Faszinierende daran ist: Du hast alles. Mehr braucht der Mensch nicht. Deine Bruchbude hier gefällt mir richtig gut.«
Nach dem Frühstück schlenderten sie noch mal durch die Stadt und saßen lange auf der Piazza del Campo.
Als Gianni Raffael wieder zum Castelletto fuhr und sie sich verabschiedeten, überlegte er, ob Raffael nun wirklich ein Freund war oder werden konnte und ob seine Ängste in der vergangenen Nacht vielleicht unbegründet gewesen waren.
Raffael machte sich solche Gedanken nicht.
Im Moment fühlte sich Raffael wie ein junger Gott. Er hatte am Nachmittag seine Ruhe gehabt und noch ein paar Stunden geschlafen, hatte keinen dicken Kopf, die Zeit mit Gianni hatte ihm gefallen, und wenn er jetzt noch ein vernünftiges Abendessen bekam, war sein Leben im Moment wirklich nicht zu toppen.
Christine deckte gerade den Tisch, als Stella – ziemlich verschlafen – im Nachthemd auf dem Portico erschien.
»Da bist du ja!«, krähte sie, als sie Raffael sah. »Mama hat dich schon vermisst. Sie hat gesagt, das darf man
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