Bewusstlos
machte sie sich auf die Suche nach einer Tischdecke. Im Esszimmer waren keine, im Musikzimmer auch nicht, und dass in ihrem Schlafzimmer keine Tischwäsche war, wusste sie mit Bestimmtheit.
Es kostete sie viel Überwindung, das kleine Zimmer neben der Mädchenkammer zu betreten, in dem Wilhelm in den letzten zwei Jahren vor sich hin gedämmert hatte, in immer tiefere Dunkelheit gefallen und schließlich gestorben war.
Als Wilhelm noch im gemeinsamen Schlafzimmer gelegen hatte und rund um die Uhr Musik hören musste, hatte sie drei Nächte lang versucht, die Dauerbeschallung zu ertragen, aber sie schaffte es nicht und richtete ihm schließlich das kleine Zimmer her. Hier störte es sie nicht, dass er die ganze Nacht das Radio laufen ließ. Denn nur so konnte er die Angst einigermaßen ertragen, die ihn sofort überfiel, wenn es dunkel wurde.
An der dem Bett gegenüberliegenden Wand stand der große Wäscheschrank.
Seit Jahren hatte Lilo nicht mehr hineingesehen. Er war von oben bis unten vollgestopft mit Wäsche, die sie nicht mehr brauchte. Sie hatte zwei Bettbezüge, die sie abwechselnd aufzog, und das genügte.
Aber schließlich fand sie eine weiße, leicht glänzende Tischdecke aus Damast. Durch die Art, wie sie zusammengelegt war, hatte sie nach all der Zeit scharfe Falten bekommen, aber zum Glück keine Stockflecken, was Lilo befürchtet hatte.
Lilo deckte den Tisch. Sorgfältig und mit Hingabe. Putzte das silberne Besteck, holte das Meißener Porzellan aus der Anrichte und Servietten und Serviettenringe aus der Kommode. Sie hatte ja völlig vergessen, dass es all diese wunderbaren Dinge in ihrer dem Verfall preisgegebenen Wohnung überhaupt noch gab.
Zuletzt stellte sie zwei Kerzen auf den Tisch.
Es war weit nach Mitternacht. Die Hähnchenkeulen sahen knusprig aus, waren aber mittlerweile auf die halbe Größe zusammengeschrumpelt, als Raffael endlich kam.
Sein Blick war glasig, und er schwankte, als er die Küche betrat.
»Frohe Weihnachten, Raffael«, begrüßte sie ihn. »Setz dich. Ich bin sicher, du hast Hunger, und ich habe für uns beide gekocht.«
Raffael starrte sie einen Moment lang an, als habe er kein Wort verstanden. Dann streifte er sich wortlos die Jacke von den Schultern, ließ sie über die Rückenlehne des Stuhles fallen und blickte bleich auf das reichhaltige Essen.
»Es ist alles fertig, ich mach es nur noch mal warm.« Sie sang die Worte fast, so froh war sie, dass er da war, stellte den Backofen auf die höchste Stufe und den Topf für die Knödel auf die größte Flamme.
»Willst du vorweg schon mal ein Glas Wein?« Sie sah ihm an, dass er schon einiges getrunken haben musste, aber dennoch fragte sie ihn. Es gehörte zu Weihnachten einfach dazu. Sie konnten in so einer Nacht nicht Apfelsaft trinken.
Raffael nickte schwach.
Lilo öffnete einen süßen Eiswein, den sie jahrelang aufbewahrt hatte und für etwas ganz Besonderes hielt, und goss ihm nur so viel ein, als wäre es ein Likör.
»Frohes Fest!«, sagte sie fröhlich, und Raffael grunzte. Zu mehr war er nicht in der Lage. Aber er nippte lustlos am Eiswein und fand ihn fürchterlich.
Eine Viertelstunde später brannten auf dem Esstisch zwei Kerzen.
»Für Lilo und Raffael«, sagte sie leise. »Dass hier jahrelang nur eine Kerze brannte, ist vorbei.«
Lilo tat das Essen auf, und sie aßen schweigend.
»Schmeckt es dir?«
»Ja, ja. Bestens.«
»Und wie findest du es hier? Ich meine, hier in diesem Zimmer?«
»Prima. Echt. Wirklich, alles astrein.«
»Und das Geschirr? Und das Besteck? Gefällt es dir?«
Raffael nickte. »Ja, doch. Es ist schön. Sehr schön.«
»Wenn ich tot bin, erbst du alles.«
»Lilo, hör auf, so zu reden, ich mag so was nicht.«
»Ich wollte ja nur, dass du das weißt.«
Sie schwiegen eine Weile. Dann sah sie ihn unsicher an. »Was meinst du? Wollen wir auch Silvester zusammen essen? Ich würde sogar eine Gans besorgen.«
»Sicher, das können wir machen.«
Er lächelte. Warum eigentlich nicht? Im letzten Jahr hatte er in einer Kneipe am Bahnhof Zoo eine Silvesterparty im Fernsehen gesehen. Auf dem Bildschirm eine große runde Uhr mit Sekundenzeiger, um Mitternacht fielen ihm wildfremde Penner um den Hals und pusteten ihm ihre Alkoholfahnen ins Gesicht, und dann ging es weiter mit Schlagern wie »Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit«, »Paloma Blanca« oder »Heut ist so ein schöner Tag«.
Es war unerträglich, aber er war geblieben, weil er Angst vor dem Alleinsein
Weitere Kostenlose Bücher