Bewusstlos
hatte.
Da waren eine Silvesternacht mit Lilo, ein paar Wunderkerzen auf dem Tisch und ein schönes Abendessen allemal besser.
Lilo stand auf und ging zum Plattenspieler, der unter dem Fenster stand. Raffael aß langsam weiter und wartete ab.
Sie legte das Weihnachtsoratorium von Bach auf. An jedem Heiligabend hatte sie es mit Wilhelm gehört, und es trieb ihr die Tränen in die Augen, die sie schnell wegwischte. In seinen letzten beiden Jahren war er schon zu krank gewesen, um noch irgendetwas mitzubekommen, er wusste nicht mehr, dass Weihnachten ist, und erkannte sie nicht mehr, er verlangte nur nach seinem Leberwurstbrot und brabbelte unverständliches Zeug vor sich hin. Da schenkte sie sich weihnachtliche Sentimentalitäten und versuchte, den Abend irgendwie hinter sich zu bringen, indem sie ihn fütterte und wickelte, ins Bett brachte und die Zimmertür verschloss. Damit er nicht nachts aufstehen und die Küche in Brand setzen konnte.
Das Weihnachtsoratorium hatte sie das letzte Mal vor neun Jahren gehört, als Wilhelm sie noch in den Arm nehmen und »Frohe Weihnachten« flüstern konnte.
Wieder am Tisch, tat sie sich noch ein bisschen Grünkohl auf.
»Lilo, wirklich, das Essen war ganz vorzüglich, ich habe schon ewig nicht mehr so etwas Gutes gegessen.« Es war die Wahrheit, aber dennoch war Raffael speiübel.
»Was machen deine Eltern?«, fragte Lilo.
»Sie sind beide tot«, antwortete er knapp.
»Oh!« Lilo war regelrecht erschrocken. »Das tut mir leid.«
»Ja, ja. Schon gut. Kein Problem.«
Lilo erschrak über die Gleichgültigkeit in Raffaels Stimme, und sie wechselte schnell das Thema, da sie Angst hatte, jede aufkeimende Weihnachtsstimmung zu zerstören, wenn sie weiter nachhakte.
Zum Nachtisch gab es Spekulatius.
»Möchtest du zu den Keksen einen Kaffee?«
Raffael antwortete nicht und winkte ab.
Und dann kam es ganz plötzlich. Raffael erbrach sich auf den Teppich neben dem Tisch. Die noch unverdauten Essensbrocken flogen auch gegen die Tischdecke, die Kommode und den benachbarten Stuhl.
Es war eine einzige Sauerei.
Lilo sagte gar nichts. Ich bin schuld, dachte sie nur, ich hätte ihm nichts mehr zu trinken geben dürfen. Aber das perfekte Festessen war mir wichtiger.
»Entschuldige«, stammelte er, und seine Augen waren blutunterlaufen und verquollen. Dann stand er auf und ging ins Bad.
Lilo holte den Mülleimer, einen Wischeimer mit warmem Seifenwasser und einen Scheuerlappen und beseitigte das Desaster, wobei auch ihr übel wurde, so fürchterlich ekelte sie sich.
Als er wieder aus dem Bad kam, war von dem Malheur nichts mehr zu sehen.
»Tut mir leid«, sagte er leise.
»Schon gut. Kann ja mal passieren. Aber ich denke, du trinkst generell ein bisschen zu viel.«
»Wieso? Heute ist Weihnachten! Wo ist das Problem? Alle schütten sich zu Weihnachten die Birne voll, na und?«
Lilo verstummte. Raffaels Augen blitzten zornig, und sie wusste, dass es besser war, dieses Thema jetzt nicht zu vertiefen.
Sie stand auf und gab sich betont fröhlich, als wäre nichts geschehen. »Du hast völlig recht, heute ist Weihnachten, und ich habe noch eine Überraschung für dich. Kleinen Moment, ich bin gleich wieder da.«
Raffael hatte keine Lust mehr, wollte nur noch in seinem Zimmer verschwinden und seine Ruhe haben, aber jetzt konnte er nicht weg und wartete genervt ab.
Als Lilo zurückkam, drückte sie ihm ein kleines, sehr sorgfältig eingepacktes und mit Aufklebern und Schleifchen verziertes Päckchen in die Hand.
»Für dich«, hauchte sie glücklich, »fröhliche Weihnachten, Raffael!«
Das Päckchen wog in seiner Hand so schwer wie der Mühlstein um den Hals eines zum Tode Verurteilten. So schämte er sich. Warum um alles in der Welt hatte er nicht daran gedacht, wenigstens eine Kleinigkeit für Lilo zu besorgen? Dann müsste er jetzt nicht so peinlich ganz ohne Geschenk dastehen. Alte Frauen schenkten immer irgendetwas. Zu jeder Gelegenheit. Vollkommen nutzlose Dinge wie Duschgel, Körperlotion, Wandteller oder kitschige Kalender – egal –, aber sie hatten immer etwas in petto.
Das hätte er bedenken sollen.
Jetzt war es zu spät.
»Na los!« Sie strahlte wie ein junges Mädchen. »Mach auf! Hoffentlich gefällt es dir.«
»Aber ich hab doch gar nichts für dich!«
»Raffael, bitte, das ist doch nicht wichtig. Junge Leute brauchen alles, alte nichts mehr. Ich will gar nichts geschenkt bekommen. Also los, mach auf!«
Ungeduldig riss Raffael mit wenigen hastigen
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