Bewusstlos
Bewegungen das Einwickelpapier kaputt, ohne auf die liebevollen Verzierungen der Verpackung zu achten.
Lilo sah es, zuckte aber mit keiner Wimper.
Zum Vorschein kam kein Duschgel, sondern eine schwarze, lederne Brieftasche. Er schnappte nach Luft, so schön war sie. Normalerweise kaufte er seine Brieftaschen immer nur auf dem Grabbeltisch, wenn sie im Sonderangebot waren, und es war ihm egal, wie sie aussahen – diese hier war richtig edel und hatte sicherlich nicht wenig gekostet.
Sprachlos untersuchte er die einzelnen Fächer, war beeindruckt von den vielfältigen Klappmöglichkeiten und gleichzeitig davon überzeugt, sich niemals in dieser Brieftasche zurechtzufinden – als er den gelben Schein entdeckte.
Zweihundert Euro.
»Du hast hier was in der Brieftasche vergessen«, stammelte er erschrocken.
»Sicher nicht«, lächelte sie. »So verwirrt bin ich noch nicht. Ich mache Geschenke immer sehr sorgfältig zurecht und überlege mir sehr genau, was ich wem schenke.«
»Du bist verrückt«, flüsterte er.
»Nein, das bin ich nicht. Aber du hast so viel für mich getan. Du hilfst mir beim Einkaufen, du hast das Rollo im Musikzimmer abgeschraubt, den Abfluss in der Dusche wieder gängig gemacht … ach, was weiß ich noch alles. Wenn du mein Geschenk nicht annehmen willst, dann sieh es als Honorar.«
»Danke, Lilo, danke!« Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Dabei hast du doch selbst nichts.«
»Doch, ein bisschen schon. Jedenfalls bin ich seit Wilhelms Tod in der Lage, jeden Monat ein paar Cent zurückzulegen.«
Raffael spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen.
Und dann begann er zu weinen. Konnte nichts dagegen tun. Lag mit dem Kopf auf dem Tisch und weinte wegen eines verlorenen Lebens und eines wunderbaren Augenblicks. Wegen des schönsten Weihnachtsabends, an den er sich in seinem alkoholbeduselten Kopf erinnern konnte.
Das alles war jetzt schon fast ein halbes Jahr her.
Um halb drei schreckte Lilo auf, weil der Regen gegen die Scheiben prasselte.
Ihr war ganz leicht ums Herz. Raffael war zu Hause und schlief nur drei Türen weiter, alles war gut, ihr konnte nichts geschehen. Und vielleicht würde sie sich ja doch die Romeo und Julia -Inszenierung einmal ansehen …
Dass der Regen noch stärker wurde und es anfing zu donnern, hörte sie bereits nicht mehr.
8
Der Computer sprang in den Schlafmodus, und auf dem Bildschirm erschienen bunte Fische, die unermüdlich hin und her schwammen.
Hauptkommissar Richard Maurer konnte Fische nicht ausstehen und fragte sich, warum er den Bildschirmschoner nicht längst geändert hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass er normalerweise am Computer intensiv arbeitete und der Bildschirmschoner nur wenige Chancen hatte, anzuspringen.
Aber nun saß er schon minutenlang bewegungslos am Schreibtisch, sah aus dem Fenster und dachte an seine Tochter.
Vanessa hatte vor wenigen Tagen ihre Abiklausuren geschrieben und ihm heute Morgen eröffnet, dass sie nie wieder in ihrem Leben in ein Buch gucken werde. Auch nicht vor den mündlichen Prüfungen. Sie habe vor, mit einer Freundin nach Paris zu fahren und es mal anständig krachen zu lassen. Und im selben Atemzug hatte sie ihren Vater um fünfhundert Euro gebeten. Das sei ja wohl das wenigste und eigentlich ein Klacks, wenn man gerade Abi geschrieben hatte.
Richard hatte sich damit herausgeredet, keine fünfhundert Euro im Haus zu haben, was durchaus der Wahrheit entsprach, und das Gespräch auf den Abend vertagt. Und jetzt wusste er nicht, was er machen sollte, wie er elegant aus der Nummer wieder herauskam. Es ging ihm nicht um das Geld, das gab er Vanessa gern, es ging ihm darum, dass ihm schwarz vor Augen wurde, wenn er sich vorstellte, dass Vanessa es in Paris krachen ließ . Seine berufsbedingte kriminelle Fantasie schlug Kapriolen und würde ihm schlaflose Nächte bereiten, bis Vanessa wieder zu Hause war.
Daher konnte er sich kaum auf den neuen Fall konzentrieren, der seit gestern auf seinem Schreibtisch lag:
Die achtunddreißigjährige Hausfrau und dreifache Mutter Gerlinde Gruber trug jeden Tag in den frühen Morgenstunden zwischen drei und sechs Uhr früh Zeitungen aus und steckte gleichzeitig Reklamesendungen in die Briefkästen. Ihr Lebensgefährte war Elektriker, und sein Gehalt reichte für die Wohnung und den Unterhalt von fünf Personen vorn und hinten nicht. Nur mit Gerlindes Zusatzverdienst kamen sie einigermaßen über die Runden.
Und nun war Gerlinde in der Nacht von Freitag
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