Bewusstlos
Parkbank oder unter der Brücke so volllaufen ließ, bis er nicht mehr wusste, wo und wer er war.
Er bezahlte beide Sixpacks, ging nach Hause und trank, bis er auf sein Bett sackte und einschlief, in der Hoffnung, dass alles nur ein böser Traum gewesen war, aus dem er morgen früh endlich erwachen würde.
7
Lilo Berthold hörte, wie der Junge – in ihren Gedanken war er immer nur »der Junge« – die Wohnungstür aufschloss. Sie schaltete ihre Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Viertel vor eins. Also war er direkt nach der Vorstellung nach Hause gekommen und nicht – wie so oft – wieder in einer Kneipe versackt.
Es war gut, dass er da war. Jetzt musste sie sich keine Sorgen mehr machen, denn immer, wenn er die halbe oder die ganze Nacht wegblieb, betete sie, dass ihm nichts passieren möge. Und sie schlief dann unruhig oder gar nicht.
Das Alleinsein lastete ihr seit Jahren auf der Seele. Ihre Eltern und ihr Bruder waren seit Langem tot, Kinder hatte sie nicht, ihre einzige Freundin lebte in Amsterdam, und sie sah sie höchstens alle fünf Jahre. Nach Wilhelms Tod vor sechs Jahren hatte ihr Absturz in die Einsamkeit begonnen.
Ihr Leben lang hatte sie sich davor gefürchtet, im Alter allein zu sein und einsam sterben zu müssen. Doch seit Raffael bei ihr wohnte, war sie gelassener geworden, auch wenn die Angst, dass er von einem Tag auf den andern seine Sachen packen und gehen könnte, sie ganz krank machte. Eine Sicherheit, nicht allein sterben zu müssen, gab es nicht.
Manchmal war er so nett, dass sie es kaum fassen konnte und es ihr leichtfiel, seine unfreundlichen Momente zu übersehen und schnell wieder zu vergessen. Hin und wieder bildete sie sich sogar ein, dass er gern bei ihr wohnte und sogar an ihrer Gesellschaft interessiert war.
Sie erinnerte sich noch genau: Es war vier Wochen nach Raffaels Einzug, und Weihnachten stand vor der Tür, die Zeit, die sie am meisten fürchtete. Ein ganzes Land schien nur noch mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt zu sein, alle fieberten dem »Familienfest der Liebe« entgegen. Die Menschen, die weder Liebe noch Familie hatten, übersah man. Die geschmückten Straßen und Kaufhäuser waren für Lilo kaum zu ertragen, die Weihnachtsmusik im Radio trieb ihr die Tränen in die Augen.
Seit Wilhelm tot war, verzichtete sie auf Weihnachtsschmuck in der Wohnung, besorgte sich auch keinen Adventskranz mehr, sondern entzündete am Heiligabend nur eine einzige Kerze für sich selbst. Ein Licht für Lilo.
Das war der schlimmste Moment, weil die Sehnsucht nach irgendeinem anderen Menschen, für den sie eine Kerze hätte entzünden können, übermächtig wurde.
Am Heiligabend war Raffael nicht zu Hause, und sie wusste, dass er am Nachmittag ziemlich schlecht gelaunt gegangen war. Seine Augen waren dunkel gewesen und kippten ab und zu nach hinten weg. Entweder hatte er bereits zu viel getrunken, oder er war depressiv. So genau kannte sie ihn noch nicht.
Er hatte gesagt, er wisse nicht wohin, schlendere nur so durch die Gegend, ohne Ziel. Schließlich gab es viele Leute, die Heiligabend allein waren.
Sie war auch allein. Aber das war ihm wohl nicht so bewusst.
Eine Gans hatte sie nicht, aber im Kühlschrank waren noch ein paar Hähnchenschenkel. Sie würde sie braten. Irgendwann musste er ja nach Hause kommen, und dann freute er sich vielleicht über ein kleines Weihnachtsessen.
Lilo gab sich große Mühe. Sie wusch und schnitt den Salat, den sie im Kühlschrank hatte, und öffnete ein Glas mit Grünkohl. Obwohl Grünkohl eigentlich, wie sie fand, vor allem zu Enten- oder Gänsebraten passte, erinnerte sie der Geschmack an Weihnachten und an ihre Kindheit, und sie war sicher, dass er auch zu Hühnerkeulen köstlich sein würde.
Dann schob sie die Keulen in den Backofen und schmorte sie auf kleiner Flamme. Die Fertigklöße warteten darauf, nur noch ins kochende Wasser geworfen zu werden.
Und dann tat sie etwas, was sie das letzte Mal vor zehn Jahren getan hatte. Sie ging ins Esszimmer und schaltete den Kronleuchter an. Nur zwei Lichter waren kaputt, aber das fiel inmitten der Kristallpracht kaum auf.
Lilo atmete tief durch und dachte an wundervolle Weihnachtsessen, die sie hier erlebt hatte. Zu zehnt hatten sie hier am ausgezogenen Tisch gesessen.
Sie überlegte. Nein, sie waren nur zu zweit, da konnte der Tisch rund bleiben und musste nicht oval und noch größer werden. Sie wusste ohnehin nicht mehr, wie der Ausziehmechanismus funktionierte.
Als Erstes
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