Bewusstlos
Tisch in der Küche.
Und wartete.
Um halb acht hörte sie, dass er versuchte, das Schlüsselloch zu treffen, um die Wohnungstür aufzuschließen. Dann kam er in die Küche.
»Hallo, Lilo«, begrüßte er sie grinsend, »bin ich nicht superpünktlich? Ich bin die Pünktlichkeit in Person. Alles halb so wild. Wie geht es dir?«
Er hielt sich am Türrahmen fest, grinste immer noch dümmlich, fixierte sie mit starrem Blick, damit seine Augen nicht anfingen zu kreisen und hin und her zu tanzen. Aber er sah sie nicht an, sondern durch sie hindurch.
Sie antwortete nicht, sondern dachte nur: Er kann sich ja kaum noch auf den Beinen halten.
Raffael setzte sich.
»Ich freue mich, dass du da bist«, sagte sie, »hoffentlich hast du auch ein bisschen Hunger. Das Essen ist in einer Viertelstunde fertig.«
»Mach dir keinen Stress, ich hab Zeit.«
»Wie war’s im Theater? Wieder so ein Chaos?«
Sie setzte das Nudelwasser auf, gab die Pilze zum Fleisch und begann mit der Vinaigrette für den Salat.
»Na klar. Nicht so schlimm wie gestern, aber immer noch grauenhaft. Alle spielen verrückt, alle sind gestresst, und wie Fischer aus dem Desaster in der kurzen Zeit ’ne vernünftige Inszenierung basteln will, is’ mir schleierhaft.«
»Was ist denn überhaupt passiert?«
Raffael erzählte stockend und schleppend langsam, was geschehen war. Hin und wieder verdrehte er die Worte und verlor den Faden. Seinen heutigen Rauswurf erwähnte er mit keiner Silbe.
»Willst du mal kosten, ob das Fleisch weich genug ist?«
»Nee, will ich nicht.«
Raffael legte den Kopf auf den Arm und schlief einige Minuten.
Währenddessen kochte Lilo die Nudeln und machte die Soße.
Er wurde wach, als sie ihm auftat.
Sie lächelte. »Alles okay? Die beiden letzten Tage waren wahrscheinlich furchtbar anstrengend. Jetzt lass es dir erst mal schmecken.«
Raffaels Gesicht war gerötet, seine Haut war glatt, und er wirkte, als habe er gerade zehn Stunden geschlafen. In diesem Moment kam er ihr jung und verletzlich vor.
Sie aßen schweigend.
»Schmeckt’s dir?«
»Ja, ja. Is’ ganz großartig, Lilo, wirklich, einsame Spitze.« Sein Lächeln wirkte im Gegensatz zu ihrem kläglich.
Aber sie genoss das Kompliment. Es kroch ihr durch die Glieder und wärmte ihren ganzen Körper.
Plötzlich schreckte sie auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
»Ich hab dich ja gar nicht gefragt, was du trinken willst! Wir sitzen hier auf dem Trocknen, und du sagst keinen Ton.«
»Macht doch nichts, Lilo.«
»Was möchtest du denn?«
»Ein Bier, wenn du hast.«
»Natürlich hab ich.«
Sie öffnete eine Flasche und goss ihm das Bier in ein Glas.
Für sich selbst füllte sie eins mit Mineralwasser.
»Prost!« Sie hielt ihr Glas in die Luft.
»Auf dich, Lilo.« Sie stießen an und tranken.
Alles war gut.
Nach der Nachspeise und dem dritten Bier fing Raffael an zu weinen.
Ohne Vorwarnung und aus heiterem Himmel, und Lilo wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Sie stand auf und streichelte ihm über den Kopf. »Raffael, was ist denn los? Was ist passiert?«
Raffael schluchzte und hob sein tränenverschmiertes Gesicht.
»Was war das? Was haben wir eben gegessen?«
»Rindergeschnetzeltes. Wieso?«
Er stand auf und würgte. Seine Augen waren glasig. Dann jammerte er: »Ich werde nie wieder Fleisch essen! Nie wieder! Es ekelt mich an!«
Lilo war völlig konsterniert. »Aber du hast dir dieses Essen doch gewünscht!«
Raffael überhörte, was sie gesagt hatte.
»Wusstest du, dass in China Hunde geschlachtet werden? Und in Thailand und in Polen und in Tschechien und weiß der Geier wo noch überall?« Er konnte kaum sprechen, so heftig weinte er.
Lilo saß stumm da und wartete ab.
»Und nicht nur das. Sie werden ja nicht einfach nur geschlachtet, so human wie möglich, so wie bei uns ein Schwein – nein, die Hunde werden an den Hinterläufen aufgehängt und langsam totgeschlagen, damit durch das Adrenalin das Fleisch schön zart wird.«
»Raffael, ich will das nicht hören!«
»Doch! Du musst es hören! Die ganze Welt muss es hören, was die Chinesen mit den armen Tieren machen! Dann fährst du da nämlich nie wieder hin! Dann siehst du die tolle Chinesische Mauer und dieses grässliche Land nämlich in einem ganz anderen Licht!«
»Ich fahr nicht nach China, Raffael. Niemals! Dafür bin ich viel zu alt.«
»Und dieses Totschlagen dauert manchmal vierundzwanzig Stunden, Lilo, kannst du dir das vorstellen?«
Lilo verbarg ihr Gesicht
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