Bewusstlos
weiß, dass du den lieben langen Tag am Fenster sitzt. Das ist nicht gut. Irgendwann kommst du nicht nur auf die Idee, die halbe Welt zusammenzubrüllen und mit Lichtzeichen zu funken, sondern vielleicht sogar hinauszuspringen. Und das wäre doch richtig schade. Und so unappetitlich für die Leute, die dich auf dem Bürgersteig finden. Nein, das wollen wir nicht. Außerdem werde ich auch nicht gern beobachtet, wenn ich komme oder gehe. Verstehst du? Also werden wir jetzt dein Fenster vernageln. Und da du kein Holz im Haus hast, muss leider dein Küchentisch dran glauben. Von den Maßen her passt er ja idealinski. Wie für dein Fenster gemacht.«
Aus der Traum. Die letzte Chance vertan. Er würde zwar hin und wieder die Wohnung verlassen, aber sie wüsste nicht mehr wann und könnte nichts riskieren. Außerdem saß sie hier ab jetzt ohne Tageslicht. Und diese Vorstellung war unerträglich.
Sorgfältig schloss Raffael die Übergardinen und ließ sie so hängen, dass man von außen lediglich dachte, sie seien zugezogen. Dann begann er zu bohren, zu dübeln und zu schrauben und arbeitete zügig und hochkonzentriert.
Von der Straße aus war durch die Übergardinen nicht zu sehen, dass das Fenster mit einer großen Tischplatte zugenagelt war. Ein bisschen Verstand musste ihm der Suff noch gelassen haben.
Als er fertig war, war er mit dem Ergebnis durchaus zufrieden. Er wirkte richtig stolz.
»Das hat ja alles wunderbar hingehauen. Klasse. Genauso hab ich mir das vorgestellt.« Er rieb sich die Hände, ging zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung aus. Es war schlagartig stockdunkel im Zimmer.
»Guck mal, Lilo, ist das nicht gemütlich? Auch mitten im Hochsommer hast du jetzt immer das Gefühl, es ist Weihnachten. Ist das nicht toll? Fehlt nur noch ’ne Kerze, und die Romantik ist perfekt. Und was hatten wir für einen Spaß zu Weihnachten, erinnerst du dich? Aber lass mal, nächstes Weihnachten wird genauso schön. Und du brauchst keine Angst zu haben. Wir beide bleiben zusammen, wir sind wie füreinander geschaffen, und ich werde dich immer pflegen. Du musst mir einfach nur vertrauen, dann ist alles gut.«
Auch dies kommentierte Lilo nicht, aber sie dachte: Geh mir aus den Augen, du verlogenes, kriminelles Miststück!
Raffael brachte Bohrmaschine und Werkzeugkasten zurück in die Küche und kam mit einer Flasche Wasser, zwei geschmierten Broten und einer halben, ungeschälten Salatgurke wieder.
»Damit du nicht vom Fleisch fällst, Liloschatz.«
Er stellte alles auf den Tisch vor dem Sessel und wollte das Zimmer verlassen. Aber da schrie sie ihm hinterher: »Willst du mich nicht endlich losmachen, du Teufel? Wie soll ich denn essen, wenn ich hier angebunden bin?«
»Na, na, na, was ist denn das für ein unfreundlicher Ton, meine Liebe? Aber natürlich hast du recht. Ich bin aber auch ein Schussel!« Er schlug sich wie im Kindertheater mit großer Geste vor die Stirn, ging in die Küche und kam mit einer Schere wieder, mit der er die Kabelbinder durchschnitt.
Lilo richtete sich auf und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, denn das harte Plastik hatte sich ihr tief ins Fleisch geschnitten.
Und wieder drehte er sich in der Tür um, als er das Zimmer verlassen wollte. Es schien eine neue Masche von ihm zu sein.
»Ach, bitte vergiss nicht: Wenn du irgendwelchen Blödsinn machst, dann wiederholen wir die Nummer mit den Kabelbindern. Und nicht nur ein Stündchen, sondern meinetwegen tagelang, wenn du Wert darauf legst. Auf diese Weise kann man sich nämlich wunderbar beruhigen. Lass es dir schmecken und angenehmen Tag noch, Lilokind.« Damit ging er und verschloss die Tür.
23
»So«, knurrte Lars, als er in Richards Büro kam, »Ende im Gelände. Nichts geht mehr, wir stecken fest. Es gibt nirgends eine Parallele, eine Schnittstelle, eine Verbindung oder was weiß ich, zwischen Gerlinde Gruber und Natascha Baumann. Es macht keinen Spaß.«
Er knallte einen Schwung Akten auf den Schreibtisch.
»Aber das weißt du ja. Ich erzähl dir ja nichts Neues.«
»Wenn du extra reinkommst, wird doch irgendwas neu gewesen sein.«
»Wir haben die Gegenüberstellung von Victor Weber und Natascha Baumann gemacht. Sie ist dem Mann in ihrem Leben noch niemals begegnet.«
»Was mich auch gewundert hätte.«
»Du sagst es.«
»Also fällt Gerlindes Mann als Täter flach. Er kann es nicht gewesen sein. Wir haben die Bekanntenkreise von Gerlinde und Natascha nicht nur bis ins siebzehnte, sondern ich vermute mal bis ins
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