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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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amüsierten uns köstlich. Svenja wollte immer der Hund sein, und sie machte das auch viel besser als ich. Wenn sie mir eine Hand aufs Knie legte und mich so flehend ansah, konnte ich mir wirklich einbilden, sie wäre einer.«
    Von Lilo kam kein Laut.
    »Und dann ging alles ganz schnell. Svenja hatte als Hundeleine ein Seil, das Teil eines Flaschenzuges war, um den Hals und hopste herum wie ein wild gewordener Welpe, ich lachte mich kaputt, und in diesem Moment brach sie durch eine morsche Bodenklappe, die von Heu bedeckt war und die wir gar nicht gesehen hatten. Sie rauschte nach unten. Der Scheißholzboden war so morsch, dass das bisschen Hopsen ihm den Rest gegeben hatte. Und das verdammte Seil um ihren Hals war nicht lang genug! Verstehst du, Lilo? Wäre es länger gewesen, wär sie nur auf den Boden gedonnert und hätte sich vielleicht die Beine gebrochen, aber mehr wäre nicht passiert.
    Ich glaube, ich hab geheult, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich wie ein Irrer nach unten kletterte. Und da baumelte Svenja. Ungefähr anderthalb Meter über der Erde. Sie war bewusstlos, aber sie lebte noch. Es war ein Wunder, dass ihr der Sturz mit dem Seil um den Hals nicht das Genick gebrochen hatte. Ich hab mich unter sie gestellt und hab sie mit meinen gestreckten Armen nach oben gedrückt, damit sie nicht erstickt. Sie war genauso schwer wie ich, ich hab mein eigenes Körpergewicht mit den Armen hochgestemmt. Aber Svenja wachte nicht auf, sonst hätte sie sich vielleicht aus der Schlinge befreien können.
    Und ich schrie, Lilo, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte. Ich schrie nach meinem Vater! ›Papa, komm! Bitte, Papa, komm!‹ Wenn mir einer helfen konnte, dann er. Nein, wenn mir einer helfen musste , dann er. Aber das Schwein kam einfach nicht. Weißt du, wie das ist, Lilo, wie verzweifelt man ist, wenn man weiß, man hält nicht mehr lange durch, man hat keine Kraft mehr, und dann stirbt sie, dann erstickt sie. Weißt du, wie man sich da fühlt? Was für eine Scheißangst man da hat? Und wie wütend man auf seinen Vater wird, wenn er einfach nicht kommt und hilft?«
    Raffael machte eine Pause und trank wieder einen Schluck.
    »Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich zitterte am ganzen Körper, und mir war klar, dass ich sie auf keinen Fall loslassen durfte. Dass ich sie halten musste, bis Hilfe kam. Bis heute weiß ich nicht, wie lange ich sie gehalten habe. Wahrscheinlich lange. Sehr lange. Ich zwang mich, nicht schlappzumachen, obwohl ich überhaupt nicht mehr konnte.
    Dann auf einmal wurde mir schwarz vor Augen, und ich bin umgefallen.
    Und Svenja hing im Seil.
    Als ich wieder zu mir kam, war sie tot.«
    Raffael heulte jetzt wie ein Schlosshund. »Ich hätte sie länger halten müssen, verstehst du? Ich hätte es schaffen müssen. Bitte, sag was. Irgendwas. Vielleicht hilft es mir, ich drehe mich da im Kreis.«
    Lilo blieb still.
    »Ich hab einen solchen Hass auf meinen Vater, einen so fürchterlichen Hass«, flüsterte er, und dann fing er wieder an zu weinen und wurde plötzlich lauter. »Und auf meine Mutter auch! Weil sie eine verlogene Zicke ist, weil sie alles macht, was mein Vater sagt, weil sie ihm nach dem Mund redet, nur damit es keinen Streit gibt, nur damit alles schön friedlich aussieht. Ich hasse sie alle beide. Ich könnte sie umbringen, ihnen bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, damit sie kapieren, was sie mit mir gemacht haben. Es tut mir nicht leid um sie. Kein bisschen. Sollen sie verrecken, es interessiert mich nicht. Und weißt du, was sie mit mir gemacht haben? Weißt du das?«
    Er schüttelte Lilo. »Weggeworfen haben sie mich. Wie Dreck. Weggegeben, abgeschoben. Sie wollten mich nicht mehr, ich war ihnen lästig, ich war zu viel, ich störte. Ich durfte noch nicht mal mehr zu Hause wohnen. Ein Kind wollten sie nicht, dann lieber gar keins, damit sie ihre Ruhe hatten. Ich war im Weg. Bloß loswerden, dieses Scheißkind.«
    Er schlug die Hände vors Gesicht. Alle Dämme brachen.
    »Ich habe sie gehasst. Gehasst, gehasst, gehasst! Ja, Lilo, das hab ich. Sie haben ja nur an sich gedacht. Jedes Jahr ein neues Auto, und ich konnte mir nicht mal ’ne Gitarre kaufen.«
    »Sind sie nicht tot?«, röchelte Lilo mit schwacher Stimme.
    »Doch!«, schrie Raffael. »Sie sind tot. In mir sind sie zwanzigmal gestorben, zwanzigmal hab ich sie schon umgebracht.«
    Lilo hörte nicht mehr hin, sie war so unendlich müde, so entsetzlich müde, sie konnte und wollte

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