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Bewusstlos

Bewusstlos

Titel: Bewusstlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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nicht mehr wach bleiben. Ich komme, Wilhelm, dachte sie noch einmal, und dann schlief sie ein.
    »Ich habe nie wieder mit ihnen geredet. Weil sie mir nicht geholfen hatten. Und weil sie mich nicht geliebt haben. Kein bisschen. Und weil sie sich nicht um mich gekümmert haben. Jetzt hab ich sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht leben sie wirklich nicht mehr, keine Ahnung, aber es ist mir auch egal.« Er weinte ein paar Minuten. Sein ganzer Körper schüttelte sich.
    »An diesem Tag hab ich alles verloren, Lilo. Meine Schwester und meine Eltern. Meine ganze Familie. Das hält man nicht aus. Und ich war erst sieben! Von da an hat ja dann auch nichts mehr funktioniert. In der Schule, mein’ ich, und danach. Hatte nie ’nen Beruf oder ’nen vernünftigen Job. Kein Geld, keine Freunde und kein Dach überm Kopf. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich hier bei dir ein Zuhause, Lilo. Und darüber bin ich richtig glücklich.«
    Mit dem Unterarm wischte er sich Tränen und Schnodder aus dem Gesicht und hielt inne. Von Lilo kam kein Laut, kein Atmen, kein Wort.
    Bisher hatte nur die Nachttischlampe gebrannt, jetzt stand er irritiert auf, ging zur Tür und schaltete die Deckenbeleuchtung ein.
    Er sah sie einen Moment lang an, dann brüllte er los: »Na toll, ich erzähle dir mein Problem, das Geheimnis, das Schreckliche, das mein ganzes Leben bestimmt hat, und du pennst!«
    Lilo regte sich nicht.
    Erst jetzt kam sie ihm irgendwie seltsam vor. Ihr Gesicht wirkte so anders, so leer.
    Er trat näher zu ihr und beugte sich über sie.
    »Hallo! Lilo!«, rief er ihr direkt ins Gesicht.
    Sie zuckte nicht, blinzelte noch nicht einmal. Sie lag einfach nur da.
    Er hielt ihr die Nase zu, aber auch da kam kein Reflex der Abwehr.
    Allmählich dämmerte es ihm, und er suchte ihren Puls an der Halsschlagader. Nichts.
    »Verfluchte Scheiße, Lilo!«, schrie er und schlug mit der Faust auf den Nachttisch, sodass das Wasserglas, das noch halb voll war, zu Boden fiel. »Ich rede mit dir, und du stirbst! Bist du wahnsinnig? Einfach so, ohne noch einen Ton zu sagen. Du hättest dich ruhig verabschieden können!« Er rang die Hände. »Lilo, das geht nicht. Das geht gar nicht. Was mach ich denn jetzt mit dir, um Himmels willen?«
    Er sah auf die Uhr. Halb fünf Uhr früh.
    Was war das doch für eine beschissene Welt.
    Er ging aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
    Zwei Minuten später kam er noch einmal zurück und schloss Lilos Zimmertür von außen ab.
    Fünf Stunden später war er bereits wieder wach.
    Nur ein einziger Gedanke hämmerte in seinem Schädel: Er musste weg. Weg aus dieser Wohnung, weg von der toten Lilo, weg von allem. Weg, weg, weg. Er hatte das Gefühl, bis zum Hals in Schwierigkeiten zu stecken, und das konnte von Tag zu Tag nicht besser, sondern nur noch schlimmer werden.
    Er putzte sich die Zähne, trank ein paar Schlucke eiskaltes Leitungswasser, zog sich an und packte in seine Reisetasche nur das Allernötigste: seine Brieftasche mit Ausweis und Papieren, einen dicken Umschlag mit Lilos Ersparnissen, das Kästchen mit Svenjas Bild, in das er jetzt auch Lilos Schmuck legte, Zahnbürste, Unterwäsche, drei T-Shirts, zwei Pullover, eine Jeans. Das war alles.
    Dann sah er sich im Zimmer um, ob er irgendetwas vergessen hatte.
    Und dabei fiel sein Blick auf die Kiste mit der ungeöffneten Post. Damit hätte er allein eine Tasche füllen können, aber was interessierten ihn diese dämlichen Briefe. Nichts war mehr wichtig. Wenn er es clever anstellte, würde es ihn nicht mehr geben.
    Niemand sollte wissen, dass er hier gewohnt hatte. Polizeilich gemeldet war er nicht, Postbote, Hausmeister und die Inder im Parterre hielten ihn für Lilos Enkel. Das war gut so. Und dass er im Theater gearbeitet hatte, hatte auch nur Lilo gewusst.
    Die Vollmacht! Wenn er zur Bank ging, um Lilos Rente zu holen und das Konto zu leeren, musste er seinen Ausweis vorlegen. Dann wüssten sie seinen Namen. Er würde selbst eine Spur zu sich legen.
    Nur ohne Vollmacht blieb er der unbekannte Untermieter.
    Er suchte die Vollmacht hervor, warf sie in die Kiste mit der ungeöffneten Post, steckte die Kiste kurz entschlossen in Brand und verließ das Zimmer.

29
    Normalerweise sprach Rhagav fließend Deutsch, zwar nicht akzentfrei, aber er konnte sich mühelos verständigen. Doch in diesem Moment war er so sehr in Panik, dass ihm kein einziges Wort mehr einfiel, dass er rumstotterte, als wäre er erst ein paar Tage in

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