Bezaubernde Spionin
zunächst nicht bemerkt, aber nachdem sie die Falten ihres Gewandes geordnet hatte, mehrmals, und schließlich nicht mehr vermeiden konnte hochzublicken, erkannte sie den Grund für den Ernst in den Mienen der Königin und des Königs.
Etwas abseits von den anderen Höflingen und Beamten hatten sich unter den hohen Fenstern des Thronsaals einige Chieftains der schottischen Lowland-Clans versammelt. Sie warfen dem Königspaar und auch Aylinn, jedenfalls kam es ihr so vor, finstere Blicke zu, und ihre Mienen waren durchweg düster und mürrisch. Sie trugen alle ihre Bonnets mit den Clansfedern, ihre Tartans und ihre Clansbroschen und waren, wie Aylinn überrascht feststellte, sogar mit Kurzschwertern bewaffnet, was bei einer Audienz eigentlich eher unüblich war. Es gab zwar kein königliches Dekret, welches das Tragen von Waffen in Anwesenheit des Monarchen verbot, aber für gewöhnlich verzichteten die Clanchiefs auf ein allzu martialisches Gehabe, wenn sie den Königspalast aufsuchten. Falls sie es überhaupt taten.
Aylinns Blick zuckte kurz zu den Wachen, die hinter dem Königspaar standen. Die Männer trugen nicht die üblichen Piken mit den bunten Wimpeln, sondern waren mit Schwertern und Streitäxten bewaffnet. Sie rang erschrocken nach Luft, als sie in dem schattigen Gang hinter dem Thron Soldaten mit offenbar schussbereiten Armbrüsten erkannte. Sie wusste, dass der Gang in einen Korridor mündete, an dem die Gemächer der Offiziere lagen. Folgte man ihm weiter, gelangte man in den Westflügel des Schlosses, wo sich die königlichen Quartiere befanden.
Sie sah rasch zu den Clansleuten zurück, die sich um eine Person zu scharen schienen: William Douglas, Chieftain mehrerer Lowland-Clans und Clanchief des Douglas-Clans, eines der mächtigsten Clans der Lowlands. Außerdem war er ein glühender Verehrer der englischen Lebensart und Politik, der im Moment mit einem Engländer zusammenstand, den sie kannte, und einer atemberaubenden Frau in einem schwarzen, beinah aufdringlich schlichten Gewand.
Wie böse Zungen munkelten, verehrte William Douglas, dem von Heinrich VI. für seine Ergebenheit bereits eine Baronie verliehen worden war, auch englisches Ale und englisches Gold. Aylinn fragte sich, ob er seine Englandfreundlichkeit jetzt auch bereits auf englische Frauen ausgedehnt hatte, aber dann unterdrückte sie diesen Gedanken rasch. Das spielte keine Rolle. Wichtiger war, dass Williams Verbundenheit mit England die Position des schottischen Königs beträchtlich schwächte, denn dem Clanchief war es im letzten Jahr gelungen, eine große Zahl unzufriedener Clanchiefs der Lowlands um sich zu sammeln, die sich von England mehr Privilegien und mehr Macht versprachen.
In diesem Moment wurde Aylinn erneut die Tragweite dessen bewusst, worauf sie sich eingelassen hatte. War es wirklich eine so gute Idee gewesen, sich für diesen abenteuerlichen Plan herzugeben? Würde sie durchhalten? Konnte sie ihren Onkel John von Bedford so lange täuschen und hinhalten, bis sie herausgefunden hatte, welche Kräfte in England ihrem König freundlichen gesinnt und bereit waren, sich gegen John zu erheben oder zumindest Schottlands Unabhängigkeit zu stützen? Denn natürlich hatte Königin Joan Beaufort recht gehabt: Wenn der Herzog von Bedford sie, Aylinn, tatsächlich eingeladen hatte, nach England zu kommen, dann gewiss nicht, weil er, wie er behauptete, um ihre Sicherheit besorgt war. Sie verzog unwillkürlich die Lippen bei diesem Gedanken. Oh nein, er wollte sie um sich haben, um sie kontrollieren und für seine Pläne manipulieren zu können, so wie er schon ihren Vater beeinflusst hatte, und zweifellos würde es seinen Plänen, noch mehr Einfluss in Schottland zu gewinnen, sehr zugutekommen, wenn er Aylinn zu einer Heirat mit einem seiner Vertrauten »überreden« konnte. Was jedoch niemals passieren würde. Niemals!
Ihr Blick zuckte kurz zum Rand des Podestes, zu dem Mann, der für ihre, wie es ihr jetzt plötzlich erschien, etwas sehr riskante Entscheidung verantwortlich war.
Sir Rupert von Atholl schien sich jedoch wieder gefasst zu haben. Sein Blick ruhte nicht mehr auf ihr, wofür Aylinn dankbar war. So fiel es ihr erheblich leichter, ihre Fassung zu bewahren. Allerdings war seine Miene alles andere als angetan, ihr Gemüt zu beruhigen. Sie war kalt, undurchdringlich und auf eine subtile, erschreckende Art bedrohlich. Auch wenn Aylinn wusste, dass sein kalter Zorn sich nicht gegen sie richtete, überlief es sie
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