Beziehungswaise Roman
Die Schwester nickt dankbar. Ebba beugt sich über das Kopfteil und küsst Fars Wange. »Schatz, wir kommen bald wieder. Schlaf schön. Ich liebe dich.«
Ich halte ihr meine Hand hin. Sie legt ihre kleine zerbrechliche hinein. Ich ziehe sie vorsichtig auf die Beine. Sie wiegt keine fünfzig Kilo, und dennoch muss ich mich anstrengen, als trüge sie ein schweres Gewicht auf ihren Schultern.
Als die Wohnungstür aufschwingt und wir hereintreten, ist irgendetwas anders. Ich gehe durch die Räume und überprüfe die Fenster und die Balkontür. Keine Zeichen von Einbruch. Schließlich verstehe ich, dass wir es sind. Wir sind anders. Es wird kaum gesprochen. Kein Swing. Keine blöden Witze. Wir trinken schweigend Käffchen. Jeder hängt seinen Gedanken nach. Ebba räuspert sich und versucht ein Lächeln.
»Hätte schlimmer kommen können. Also, Kopf hoch ...« »Denn da scheint die Sonne«, ergänzen wir und ein warmes Gefühl steigt in mir auf. Ihr Mann liegt im Krankenhaus,und sie macht sich Sorgen um uns. Sie sieht uns immer noch als Kinder, die man schützen und aufmuntern muss. Eltern sind außerirdisch. Sogar wenn es nicht die eigenen sind.
Sie entschuldigt sich und geht ins Schlafzimmer, um sich etwas auszuruhen. Ich gehe ins Wohnzimmer rüber, setze mich auf den Telefonhocker, atme ein paarmal durch und wähle Tess’ Nummer. Mailbox. Ich unterbreche, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Dann schaue ich durchs Fenster raus in den Kopenhagener Abend. Sternenhimmel. Ich fühle mich einsam. Allein gelassen. In einer solchen Situation. Mir wird klar, was wir getan haben.
Als ich in die Küche komme, füllt Sune gerade Kaffee in die große Thermoskanne.
»Die werden wir im Krankenhaus brauchen«, sage ich und knöpfe meinen Mantel zu.
Sie schaut fragend, wirft einen Blick auf den Mantel, dann blitzen ihre Augen auf.
»Gut«, sagt sie. »Ich sage Ebba Bescheid.«
»Nicht nötig«, sagt Ebba.
Sie steht in der Küchentür, Mantel und Wintermütze in der Hand.
Im Krankenhaus ist es ruhiger, die Nachtschicht hat übernommen. Irgendwo plärrt leise ein Radio. Eine Schwester am Empfang erklärt uns, dass keine Besuchszeit ist. Wir nicken und gehen weiter. Sie schaut uns nach, sagt aber nichts mehr. Die Gänge liegen still da. Es klingt nicht mehr so schlimm, es sieht nicht mehr so schlimm aus, aber in der stehenden Luft spürt man noch das Flirren von Angst und Verzweiflung.
Das übersinnlichste Erlebnis, das ich je hatte, war, in Urlaub zu fahren und dort einen Typen am Strand zu treffen, mit dem ich mich am Vorabend in Gifhorn geprügelthatte. Ich habe in diese Begegnung nichts als Pech hineininterpretiert. Ich glaube eben nicht an Spuk, aber ich weiß, dass Gefühle sich materialisieren können. Angst kann sich in Materie fressen und von dort wieder abstrahlen. Wer je Bergen-Belsen besucht hat, weiß das. Wer je einen buddhistischen Tempel besucht hat, weiß, dass Liebe dieselbe Macht hat. Mittlerweile kann man es sogar visualisieren. Masaru Emoto hat in seinem Projekt The Messagesfrom Water Forschungen über die Wirkung von Vorstellungen, Worten und Musik auf Wassermoleküle angestellt. Er hat aufgezeigt, dass Wasserkristalle die Tendenz haben, die Einwirkung der Umwelt zu spiegeln – und Menschen bestehen zu siebzig Prozent aus Wasser. Dieses Forschungsergebnis ist keine Spinnerei von esoterischen Weltverbesserern, sondern eine von Naturwissenschaftlern nicht widerlegbare physikalische Reaktion. Ich glaube, dass eines Tages bewiesen werden wird, dass jedes Gefühl eine eigene Molekülstruktur hat, und dann wird es Messgeräte geben, die diese Gefühle aufspüren und messen können, und wenn man dann einen Angst-Geigerzähler an Krankenhauswände hält, wird er vielleicht einfach explodieren. Vielleicht sollte ich aber auch nur mal wieder eine Nacht durchschlafen.
In der Besucherecke vor dem Zimmer sitzt ein Patient und klammert sich an einen Infusionsständer mit Rädern und einem großen Beutel. In dem fleckigen Bademantel und mit unrasierten Wangen wirkt er völlig verwahrlost. Als wir ihn grüßen, schaut er uns an, als hätte er vergessen, dass es Menschen gibt, und starrt dann an die Wand. Wir machen es uns auf den Besucherstühlen unbequem, Sune drückt leise die Zimmertür auf und verschwindet in Fars Zimmer. Wenig später kommt sie wieder raus und sagt, dass er schläft und sie die erste Schicht übernimmt. Ebba schüttelt den Kopf und steht mühsam auf. Dann geht sieins Zimmer, um Fars Hand
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