Bianca Exklusiv Band 0088
bildeten, eingehend betrachtete. Jetzt begann er mit zittriger Stimme zu sprechen, sodass Tara ihn zuerst kaum verstand. Er erzählte ihr von ihrer Kindheit, der Scheidung ihrer Eltern und dem Umzug nach London.
Gegen ihren Willen war Tara beeindruckt. Nun hob der alte Mann die Stimme. “Wenn einst der Mond das Kleid des Tigers trägt, nimm dich in Acht vor dem, der in dem Lichte jagt. Er hat die Macht, das Herz dir aus der Brust zu reißen. Gefahr beschleicht dich in der dunklen Nacht, und es gibt keine Rettung. Es sei denn, du kehrst zurück, woher du kamst: zum Westen. Geh bald, es eilt.”
Die Stimme verstummte. Der Chinese stand auf und zog sich in den Hintergrund der Höhle zurück.
Tara saß wie erstarrt da. Erst als der Junge sie am Ärmel zupfte, fand sie in die Wirklichkeit zurück. Sie reichte dem Kleinen das Geld, das Robert ihr gegeben hatte, ehe sie ihm hinausfolgte in das strahlende Sonnenlicht.
“Hallo, Sie sehen ein bisschen mitgenommen aus”, begrüßte Robert sie. “Haben Sie etwas Interessantes zu hören bekommen?” Er hakte sich bei ihr ein und führte sie zum Ausgang.
Tara versuchte, das eben Gehörte möglichst harmlos wiederzugeben. “Eigentlich war es ein bedeutungsloses Gerede, in schöne, geheimnisvolle Worte gekleidet. Aber der Chinese wusste von der Scheidung meiner Eltern.”
“Am besten schreiben Sie sich alles gleich auf, bevor Sie es vergessen”, riet Robert. “Vielleicht wird Ihnen die Bedeutung später klarer.”
“Danke für den Tipp, aber ich werde ihn nicht befolgen. Ich glaube nämlich nicht an Wahrsagerei”, erwiderte sie kühl.
Aufmerksam blickte er sie an, sagte jedoch nichts, bis sie wieder beim Auto waren. “Ihr Stiefvater hat mich übrigens wissen lassen, dass er Ihre Mütter besänftigt hat. Sie können jederzeit nach London zurückkehren, wenn Sie möchten, Tamara. John Chacewater hat Ihnen ein kleines Haus gekauft, für alle Fälle.”
Tara war so überrascht, dass sie ihre Gefühle nicht verbergen konnte. Robert erwartete offensichtlich keine Antwort, sondern reichte ihr nur einen Umschlag mit ihrem Namen. Sie erkannte die Handschrift ihres Stiefvaters und steckte das Kuvert ungeöffnet in ihre Handtasche. Forschend betrachtete Robert sie. “Na ja, ich dachte mir schon, dass Sie das Angebot nicht annehmen. Vor allem, da Sie Ihren Vater noch gar nicht wiedergesehen haben. Aber wenn Sie es hier in Hongkong nicht länger aushalten und noch nicht nach London zurückwollen, sind Sie jederzeit bei mir in Perth willkommen.”
“Danke, Robert. Aber da ich gerade erst hier angekommen bin, werde ich Ihr Angebot vorerst nicht annehmen. Nett, dass Sie für mich den Postboten gespielt haben. Könnten Sie meinen Stiefvater wissen lassen, dass es mir gut geht?”
“Sicher. Jetzt muss ich weiter, um noch einiges zu erledigen. Kann ich Sie irgendwo absetzen?”
“Nicht nötig. Ich nehme ein Taxi. Nochmals vielen Dank, dass Sie mir die Nachricht meines Stiefvaters übermittelt haben, Robert.”
“Keine Ursache. Also dann! Tun Sie nur nichts Unüberlegtes, wie beispielsweise sich verlieben”, sagte Robert neckend und sah sie dabei so durchdringend an, als wolle er ihre Gedanken erforschen.
Tara lächelte nur freundlich und nichtssagend. “Es war nett, Sie wiederzusehen.”
“Das Vergnügen war ganz meinerseits”, erwiderte er galant. “Kann ich Sie wirklich hier allein lassen?”
“Aber sicher.” Sie lächelte. “Auf Wiedersehen.”
Robert stieg ins Auto und fuhr davon.
Nachdenklich blickte sie ihm nach. Vielleicht war sie zu misstrauisch, aber sie hatte das Gefühl, dass sie an diesem Nachmittag irgendwie in eine Falle gegangen war, die Robert Moncrieff für sie ausgelegt hatte. Dass der Wahrsager so genau über sie Bescheid wusste, konnte weder Zauberei noch Zufall sein. Wahrscheinlich hatte Robert das Ganze arrangiert und dem alten Mann alles über sie verraten. Vor allem der dringliche Rat, sie solle so schnell wie möglich in den Westen zurückkehren, weil ihr andernfalls Gefahr drohe, war zu dick aufgetragen.
Sie schmunzelte, als sie sich an die genauen Worte des alten Mannes erinnerte. Der Mond im Tigerfell, also wirklich! dachte sie spöttisch. Robert Moncrieff glaubte wohl, er habe es geschickt angefangen, aber so naiv war sie nicht, darauf hereinzufallen.
Immer noch in Gedanken versunken, ging sie die Tai Hang Straße entlang, ohne auf die vorbeifahrenden Taxis zu achten oder sich auf eine der Bänke zu setzen, um den Brief ihres
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