BIANCA EXKLUSIV Band 0174
„Ich kenne es“, sagte sie erstaunt. „Ich habe es dir zu Weihnachten geschenkt, kurz nachdem Budge und Mom geheiratet hatten.“
Neill besaß dieses Messer schon so lange und hatte sich schon so oft all der Vorrichtungen bedient, dass er den Ursprung längst vergessen hatte. „Daran kann ich mich gar nicht erinnern.“ Um nicht undankbar zu wirken, fügte er hinzu: „Ich habe es ständig bei mir. Ich nehme es mit hinunter in die Mine und auf Urlaub, und ich werde es wohl im Rucksack haben, wenn ich den Mount Everest besteige.“
„Du willst den Mount Everest besteigen?“
„Ich spiele mit dem Gedanken.“
„Warum in aller Welt willst du den höchsten Berg der Welt besteigen?“
„Weil da oben keine Knox oder Bellamys sind“, erwiderte er trocken.
Bianca schüttelte den Kopf und blickte gen Himmel. „Dir muss fast so viel daran liegen wie mir, von hier wegzukommen.“
Er sagte nichts dazu, weil er sich nicht so sicher war, ob er von hier, von ihr wegwollte. Denn das wollte sie bestimmt nicht hören. Schließlich war sie diejenige, die nichts mit dem Bellamy-Clan einschließlich ihm selbst zu tun haben wollte. Er fragte sich, was es brauchte, um ihre Einstellung zu ändern, und ob er der Aufgabe gewachsen war.
Bianca rückte eine Lampe in die Nähe der Tür. Neill erkannte, dass die Lochplatte lose war und schief saß, sodass der Riegel nicht einschnappen konnte. Er entdeckte die fehlende Schraube im Aschenbecher auf der Konsole und befestigte sie mit dem Schraubenzieher am Messer. Das Schloss funktionierte wieder perfekt.
Er richtete sich auf und klappte das Messer zu. Wie konnte er vergessen haben, dass es ein Geschenk von Bianca war? Oder hatte er es nur verdrängt, zusammen mit so vielen anderen Erinnerungen an seine Jugendzeit?
Ohne zu sprechen, ohne Bianca anzusehen, ging er zur Wiege und betrachtete Tia, die eingeschlafen war. Ihre Augenbrauen waren hell, aber ihre Wimpern waren dunkel und warfen federartige Schatten auf ihre rosigen Pausbäckchen. Er vermutete, dass sie aussah wie Bianca als Baby. Oder ähnelte sie einem anderen Mann? Vittorio vielleicht. In dem schummerigen Licht war er nicht sicher. Und in diesem Moment kümmerte es ihn auch nicht. Entscheidend war, dass Tia ein Teil von Bianca war.
Er hörte ein Rascheln hinter sich, spürte Biancas Nähe, roch ihr Parfüm. „Sie ist ein so hübsches Kind“, murmelte er.
„Es freut mich, dass du so denkst“, sagte sie in rauem Ton.
Hastig blickte er sie an. Sie kniff die Lippen zusammen, und er glaubte, Tränen hinter den gesenkten Lidern zu sehen. Bisher hatte er nicht gewusst, wie gefühlsbetont sie war oder wie verletzlich. Er sehnte sich danach, sie in die Arme zu schließen. Er wollte dafür sorgen, dass es ihr nie an Liebe oder Zufriedenheit oder Gesellschaft oder Geld mangelte. Oder an einem anständigen Türschloss.
Er wandte sich ab, verwirrt über seine eigenen wie ihre Gefühle, die ihm ein Rätsel waren. Was dachte sie in diesem Augenblick, was fühlte sie? „Bianca, ich glaube nicht, dass ich immer noch so dringend von hier wegmöchte.“
Rasch trat sie an das andere Fenster. Sie schlang die Arme um die Taille und wirkte irgendwie verloren. „Warum nicht?“
Er folgte ihr. „Eine gute Frage.“
„Was ist das denn für eine Antwort?“
Er berührte ihre Schulter. Sie rührte sich nicht. „Bianca, du hättest letztes Jahr nicht so plötzlich verschwinden sollen.“
Flüchtig blickte sie zu ihm auf. Dann senkte sie den Kopf.
Er legte einen Finger unter ihr Kinn. „Sieh mich an“, sagte er sanft. Er umrahmte ihr Gesicht mit den Händen und betrachtete die hellen Brauen, die großen blauen Augen, die zierliche Nase, die sinnlichen Lippen. Ihre Haut war frisch und zart wie ein Pfirsich. Er konnte nicht verstehen, warum er früher nicht erkannt hatte, wie schön sie war. Sie war ihm so vertraut und doch so fremd.
Er streichelte ihre Wangen mit den Daumen und hob ihr Kinn. Ihr Mund öffnete sich ein wenig. Ihre Lippen zitterten. Er senkte den Kopf und schloss sie fest in die Arme. Nur zögernd erwiderte sie den Kuss.
Er erinnerte sich an jene Nacht im Pavillon, als er vor lauter Leidenschaft die Beherrschung verloren hatte. Diesmal wollte er behutsam vorgehen und ihr beweisen, wie zärtlich er sein konnte.
Als er den Kuss beendete, sah er zu seiner Verblüffung Tränen in ihren Augen schimmern. „Wenn du es nicht willst, dann tun wir es nicht“, flüsterte er.
„Tia …“
Er blickte zur Wiege.
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