BIANCA EXKLUSIV Band 0174
flüsterte Leslie. „Es muss schwer für dich gewesen sein. Ich meine, in dieses fremde Land zu kommen.“
Anne verdrängte die Erinnerung, wie seltsam und ungewohnt sie damals alles gefunden hatte – vom Essen bis zu den Schuhen und dem Bett sowie noch vielen anderen Dingen. „Ich bin schon klargekommen“, versicherte sie energisch. „Ich fühle mich okay.“
All das lag jetzt hinter ihr. Und wenn sie Robert Ryan getroffen hatte, war es für immer vorbei. Ihr amerikanischer Vater würde ihr sagen, warum er sie und ihre leibliche Mutter nie zu sich geholt hatte. Nur das wollte sie noch erfahren, um dann endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen und ihr Leben fortzusetzen.
Besorgt musterte Leslie Annes Gesicht. „Ist das wirklich wahr?“
„Ja, Schwesterherz.“ Anne griff nach dem achten Kleid, das sie anprobiert hatte. „Das nehme ich.“
„Ich dachte mir gleich, dass Sie pünktlich sein würden“, bemerkte John, als Anne die Tür hinter sich schloss.
„Sie dürfen keinesfalls zu spät erscheinen, weil Sie doch der Ehrengast sind“, erwiderte Anne.
„Hätten Sie mich sonst warten lassen?“
Mit gemischten Gefühlen schaute sie John an. Viel zu deutlich war sie sich bewusst, wie elegant und stattlich er in seinem schwarzen Smoking und dem gestärkten blütenweißen Hemd aussah. Aber selbst wenn er noch so attraktiv sein mochte, sie kam gegen das Gefühl nicht an, dass er sie zu überrumpeln versuchte. Vielleicht wollte er sie mit seiner Welt von Reichtum und Macht verführen, von Tims Fall zurückzutreten.
Sie schob ihre Gedanken beiseite und beantwortete seine Frage: „Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Aber ich bin eine Frau, die gerne pünktlich ist.“
Humor schimmerte in seinen grünen Augen. „Keine schlechte Eigenschaft.“ Er umfasste ihren Ellenbogen, als sie die Stufen hinunterstiegen. „Daran könnte ich mich gewöhnen.“
Sobald sie den Bürgersteig erreicht hatten, zog John die Hand weg. Doch Anne glaubte, die Berührung noch auf dem Weg zum Auto zu spüren. „Wer wird alles an dem Dinner teilnehmen?“
Johns Blick glitt über Annes schlanke Figur in dem bodenlangen weißen Kleid mit dem perlenbesetzen Oberteil und dem tiefen Rückenausschnitt. „Eine Menge Leute. Der Bürgermeister, ein paar Senatoren, Freunde meiner Familie, wohlhabende und großzügige Spender, die übliche Mischung. Ich mache Sie mit ihnen bekannt.“
Er schien nicht zu merken, wie nervös Anne war, aber auch nicht, dass sie die Westfields scharf beobachten wollte. Die hielten etwas Wichtiges vor ihr und Tim verborgen.
John machte sein Versprechen wahr. Kaum hatten sie den Bankettsaal betreten, stellte er Anne auch schon seiner Schwägerin Gloria vor.
„Hallo, Anne“, grüßte Gloria liebenswürdig und forderte Anne auf, sich zu ihr zu setzen. John ging fort, um die Gäste zu begrüßen. „Wie schön, dass Sie kommen konnten“, fügte Gloria hinzu.
Anne nahm befangen Platz. Es gefiel ihr nicht, im Leben anderer Menschen herumzuspionieren, doch es musste sein. Sie betrachtete Tims Mutter und war erschüttert, wie zerbrechlich Gloria aussah. Sie hatte offenbar viel Gewicht verloren, und dunkle Schatten, die das Make-up nicht verbergen konnte, lagen unter ihren Augen. Geheime Qual und unterdrückte Ängste zeichneten sich auf dem schmalen Gesicht ab.
„Hat John mit Ihnen über mich gesprochen?“, fragte Anne.
„Ja.“ Glorias Hände zitterten. „Sehr ausführlich. Wir sind beide sehr besorgt um Tim.“
Überrascht stellte Anne fest, dass Gloria nicht so verschwiegen zu sein schien wie John. Aber Tim war nicht nur Annes Klient, sondern auch ein volljähriger junger Mann. Ihm stand das Recht zu, nach seiner Vergangenheit zu forschen.
„Mrs. Westfield, ich weiß, dass Sie es nur gut mit Tim meinen. Aber ich kann diesen Fall wirklich nicht mit Ihnen diskutieren. Bitte, versuchen Sie, mich zu verstehen.“
Gloria redete weiter, als ob Anne nichts gesagt hätte. „Mir ist es völlig egal, dass Tim adoptiert wurde. Ich habe mich seit seiner Babyzeit um ihn gekümmert.“ Glorias Stimme brach. „Ich könnte ihn nicht inniger lieben, wenn ich ihn selbst geboren hätte.“
Sie tupfte sich die Augen ab und setzte ein wenig gefasster hinzu: „Dass Tim Sie beauftragt hat, respektiere ich. Aber es gibt vieles, das Sie nicht wissen. Seit dem Tod seines Vaters ist Tim tief unglücklich. Frank fehlt ihm sehr. Außerdem kommt er weder mit seinen Schwestern noch mit mir aus und ist
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