Bianca Exklusiv Band 0226
die Käfigtür zuhakte.
„Eine ‚große Regel‘ ist was, was sehr wichtig ist, wie dass wir unsere Arbeit zu Ende machen und unsere Farben und Scheren wegräumen.“ Sie führte ihren Vater in eine Ecke, wo zwei große Sitzsäcke vor einem Bücherbord standen. Eine ‚normale Regel‘, das ist auch irgendwie wichtig, wie zum Beispiel sich in einer geraden Reihe aufstellen, wenn es Zeit für die Pause ist. Und dann gibt es noch die ‚riesengroßen Regeln‘“, erklärte Susan mit einem Spreizen der Finger.“
„Wie das Zähneputzen?“
„Oh nein, das ist eine ‚große Regel‘“, entgegnete Susan ernst. „Eine ‚riesengroße Regel‘ ist, dass man nicht mit Fremden reden darf und auch nicht irgendwo mit ihnen hingehen. Eine andere ‚riesengroße Regel‘ ist, dass man immer den Sitzgurt anlegen muss.“
Justin hob den Blick und ließ ihn über die Leute gleiten, bis er in einer Lücke in der Menge Miss Greene sehen konnte. Über diese Frau also redete seine Tochter endlos, ‚Miss Greene hat das getan, Miss Greene hat das gesagt‘. Er konnte den Namen schon nicht mehr hören, wenngleich er einräumen musste, dass sie wohl sehr geschickt mit den Kindern umzugehen verstand. Denn offensichtlich hörten sie auf sie. Unzählige Male hatte er Susan ermahnt, den Sitzgurt anzulegen. Von sich aus tat sie es nie. Bis vor vierzehn Tagen, da stellte er plötzlich fest, dass sie, sobald sie im Wagen saß, automatisch den Gurt anlegte. Ja, ein- zweimal hatte sie sogar ihn ermahnen müssen, es ihr gleichzutun. Und das war nun dieser Miss Greene zu verdanken.
Jetzt fiel ihm auch plötzlich auf, dass Susan in letzter Zeit freiwillig die Zähne putzte und den Fernseher und das Licht ausmachte, wenn sie das Zimmer verließ. Justin vermutete, dass auch dieses zu Miss Greenes ‚Regeln‘ gehörte.
Seine Neugier war erwacht. Wie brachte sie es fertig, einen solchen Eindruck auf die Kinder zu machen? Er sah, wie Jungen und Mädchen sich in ihrer Nähe drängelten und ihre Aufmerksamkeit erregen wollten. Es war ganz offensichtlich, dass sie sie bewunderten. Und plötzlich empfand Justin Eifersucht. Er war es gewohnt, der Mittelpunkt von Susans Welt zu sein, der Mensch, an den sie sich mit all ihren Problemen wandte, der ihre Gedanken und ihr Handeln beeinflusste. Beschämt musste er sich eingestehen, dass er nicht besonders darauf erpicht war, diesen Platz mit jemandem zu teilen. Schon gar nicht mit Miss Greene.
„Komm, Susan.“ Er legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. „Wir gehen jetzt. Es ist schon Schlafenszeit für dich.“
„Jetzt können wir noch nicht gehen“, rief Susan aus, und Entsetzen stand in ihren Augen. „Du hast noch überhaupt gar nichts zu Miss Greene gesagt.“
„Sie ist beschäftigt. Ich kann ein andermal mit ihr reden.“ In der Erwartung, dass seine Tochter gehorsam mitkäme, zog Justin leicht an ihrer Hand.
„Nein! Jetzt musst du mit ihr reden!“, protestierte Susan voller Nachdruck. Sie stemmte ihre Füße auf den Boden und machte sich steif. Es war unmöglich, sie fortzuführen, ohne eine Szene zu riskieren. „Ich gehe sonst nicht.“
Justin hatte seine Tochter noch nie so erlebt. Natürlich war sie manchmal ein wenig ungezogen, doch noch niemals hatte sie sich ihm wirklich widersetzt.
„Susan…!“ Sein Tonfall war streng.
Sie sah zu ihrer Lehrerin hin, dann wieder zu ihrem Vater, und langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Aber, Daddy, ich möchte ganz doll gern, dass du mit Miss Greene redest. Und sie will dich kennenlernen. Es ist wichtig.“
Er hatte keine Ahnung, warum, sah aber, dass es für seine Tochter wirklich wichtig war. Also war er, da es ihr soviel bedeutete, bereit, noch eine Weile auszuharren. „Na gut, Susan, noch ein paar Minuten. Aber wenn wir mit Miss Greene reden, dann nur kurz. Ich habe heute Abend noch zu arbeiten, und du musst ins Bett, auch wenn morgen keine Schule ist.“
In dem Blick, mit dem Susan zu ihm aufsah, lag eine ihrem zarten Alter ganz unangemessene Klugheit. „Wir werden sehen“, hauchte sie so leise, dass Justin nicht wusste, ob er recht gehört hatte.
Allmählich lichtete sich die Menge, und die Leute begannen, sich zum Ausgang zu bewegen. Justin hatte fast gehofft, nicht an die Lehrerin herankommen zu können, dann hätte er mit vollem Recht Susan sagen können, er habe sich Mühe gegeben, könne jedoch jetzt nicht mehr warten. Er hatte Miss Greene nichts zu sagen und war nicht versessen darauf, von ihr zu
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