Bianca Exklusiv Band 243
Annabelle, das konnte er ertragen. Eine selbstständige Annabelle, das war er gewohnt. Aber eine kranke Annabelle, das war noch niemals vorgekommen. Sanft umschloss er ihr Handgelenk und zählte den Puls. Zu schnell, aber immerhin regelmäßig.
Gedankenverloren rieb er ihr die Finger. Ich habe noch nie eine Frau kennengelernt, die so zarte Hände hat wie Annabelle, dachte er. Und doch hat sie sich in den letzten Jahren verändert, fuhr er in Gedanken fort. Wie hat sie sich bloß in so einen Typen wie Steven verlieben können? Das würde er niemals verstehen können.
Nachdem Adam heimgekehrt war und von der Verlobung erfahren hatte, war seine erste Reaktion gewesen, diesen Steven J. Stephens aufzusuchen, um ihm ordentlich die Meinung zu sagen. Doch dann hatte er in den Collier Bay Views and News ein Foto des Geschäftsmannes gesehen. Mit einer Frau an seiner Seite, die wie eine Schaufensterpuppe aussah. Natürlich ging ihn das Liebesleben seiner Nachbarin eigentlich gar nichts an, und normalerweise mischte er sich auch nicht in das Privatleben anderer Leute ein, doch gehörte es schon seit Langem zu seinen Gewohnheiten, sich Sorgen um sie zu machen. Und alte Gewohnheiten zu ändern ist nicht immer ganz einfach.
Annabelle spürte, wie seine großen Hände sie umfassten, langsam ihre Finger rieben, bis das Blut wieder zirkulierte. Obwohl sie jetzt wieder ganz bei Bewusstsein war, hielt sie die Augen noch geschlossen.
Es dauerte schon einen Augenblick, dass er sie so streichelte, bevor sie wirklich verstand, was eigentlich geschah. Doch obwohl sie noch nicht wieder ganz bei Sinnen war, begriff sie, wie schwierig die Situation war. Adam, der sie so sanft streichelte … Plötzlich überkam sie ein Gefühl, dass sie selber nur mit einem Namen benennen konnte: Angst!
Durch seine Berührungen fühlte sie sich in die Zeit zurückversetzt, in der es noch einfach gewesen war, diesem Mann nahe zu sein.
Als sie von dem Unfall ihrer Eltern erfahren hatte, war sie sofort nach Hause geeilt. Adam hatte dort schon auf sie gewartet. Auf Lia hatte an jenem Abend ein Babysitter aufgepasst. Weit nach Mitternacht war Annabelle endlich in der elterlichen Wohnung angekommen. Der Babysitter war längst nach Hause gegangen. Lia lag im Bett und schlief, und Adam saß im Wohnzimmer und starrte selbstvergessen ins Feuer.
Er hatte den Kopf auf die Hände gestützt und schien so tief in Gedanken verloren, dass er nicht einmal bemerkte, wie Annabelle das Zimmer betrat. Außer dem steten Ticktack der großen Wanduhr, die noch von ihrem Großvater stammte, war nichts zu hören.
Als Adam bemerkte, dass er nicht allein war, sprang er auf und starrte Annabelle an. Sie konnte sich nur noch an eines deutlich erinnern, wenn sie an diesen Abend zurückdachte: Adam hatte geweint. Seine Augen waren noch ganz rot gewesen.
Er blieb die ganze Nacht über und kümmerte sich um Annabelle und Lia, als sie am nächsten Morgen aufwachten. Und seitdem hatte es nicht einen Augenblick gegeben, in dem er nicht für die beiden Schwestern da gewesen war, wenn eine der beiden seine Unterstützung brauchte. Ihm war es immer wieder gelungen, Annabelle Mut zu machen. Meistens hörte er einfach nur zu, wenn sie ihm das Herz ausschüttete, doch dadurch hatte er es geschafft, dass die junge Frau viel weniger Angst vor einem Leben hatte, in dem sie ganz allein dastand.
Während Annabelle auf dem Sofa lag und so tat, als sei sie ohne Empfindung, wobei doch ihre Sinne geschärft waren wie niemals zuvor, spürte sie, wie ein bitteres Gefühl in ihr aufstieg. Jedes Mal, wenn es ein Problem gegeben hatte, hatte sie auf die gleiche Weise reagiert: Sie hatte sich an Adams breite Schulter gelehnt, um sich dort auszuweinen. Das hatte bisher immer geholfen.
Sie warf sich selber vor, dass sie sich zu sehr auf ihn verlassen hatte. Schließlich konnte er ihr nicht alles abnehmen. Auch wenn es nach dem ersten Schmerz über den Verlust der Eltern nötig gewesen war, so einen guten Freund zu haben. Das half ihr dabei, die Dinge langsam wieder positiv zu sehen und sich selber einen Weg durch das Leben zu bahnen.
„Das Wasser kocht gleich!“ Lia kam in das Zimmer gestürmt. „Ich habe auch ein Sandwich mit Thunfisch gemacht. Sag mal, Adam, glaubst du, dass Annabelle allergisch darauf reagieren könnte? Ich meine, man sagt doch immer, dass darin zu viel Quecksilber sei. Ein Mädchen aus meiner Klasse hat im Biologieunterricht gesagt, dass …“ Lia war so aufgeregt, dass sie
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