Bianca Spezial Band 8
schmerzlich verzogen und den Mund weit aufgerissen. Tränen kullerten ihr über die Wangen. Libby nahm Colleen in den Arm, streichelte sie und redete ihr sanft zu, während sie mit ihr die Treppe hinablief. Als sie unten ankamen, hatte Colleen sich schon wieder beruhigt.
Libby atmete einmal tief durch und öffnete dann die Tür. Vielleicht lag Brady Buchanan ja falsch mit seiner Vermutung?
Doch Brady Buchanan lag haargenau richtig. Das war Libby sofort klar, als sie ihre eigene Tochter erblickte – in den Armen eines fremden Mannes.
Nein, das ist nicht meine Tochter, rief sich Libby ins Gedächtnis, als ein Gefühl der Panik sie überkam. Das ist Colleens Schwester.
Während des Telefonats hatte Brady Bluttests vorgeschlagen, und Libby hatte eingewilligt. Jetzt sah sie, dass diese Tests überflüssig waren. Colleen und Scarlett waren eineiige Zwillinge, daran gab es nichts zu rütteln. Beide hatten seidiges, dunkles Haar, große, neugierige Augen und einen fein geschwungenen Mund.
Sie waren wirklich nicht zu unterscheiden – nur durch ihre Kleidung. Während Colleen ein fliederfarbenes T-Shirt mit Spitzenkragen und passendem Höschen trug, steckte Scarlett Buchanan in einem rot-grauen Spielanzug aus Sweatshirtstoff, auf dem in großen Lettern der Name des Footballteams vom Ohio State College prangte, den Buckeyes . Wahrscheinlich hatte ihr Vater dort seinen Abschluss gemacht. Jedenfalls trug er ebenfalls ein graues Sweatshirt mit roter Buckeye -Aufschrift und dazu Jeans.
Libby musterte den Mann aufmerksam. Bisher hatte noch keiner von ihnen ein einziges Wort gesagt. Sie zumindest war auch gar nicht in der Lage zu sprechen, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Stattdessen sah Libby den Fremden einfach nur an, wie er dastand, mit der Zwillingsschwester ihrer Tochter im Arm. Er wirkte ein wenig unbeholfen – vielleicht machte ihm das alles genauso viel Angst wie ihr.
Brady Buchanan war kein Riese, bloß ein wenig größer als der Durchschnitt, etwa einen Meter achtzig vielleicht. Aber er war breitschultrig und hatte einen beachtlichen Oberkörper, wahrscheinlich verbarg er dazu einen Waschbrettbauch unter dem Footballsweater.
Einige wenige graue Strähnen zogen sich durch das hellbraune Haar, das er in einem praktischen Kurzhaarschnitt trug, und auf seinem Unterkiefer zeichnete sich der rötlichbraune Schatten eines Bartes ab. Die Bräune seiner Haut stammte ganz offensichtlich nicht aus einem Sonnenstudio, sondern rührte daher, dass er sich viel an der frischen Luft aufhielt. Libby erinnerte sich, dass er ihr am Telefon von seinem Beruf erzählt hatte: Er war Inhaber und Leiter eines Bauunternehmens, daher vermutlich sein robustes, wettergegerbtes Äußeres.
„Hallo“, begrüßte er sie und lächelte vorsichtig.
Seine Augen schimmerten in einem unergründlichen Blau, in das noch mehrere andere Farben hineinspielten. Je nach Lichteinfall wirkten sie wahrscheinlich mal grau und auch mal grün. Sein zögerndes Lächeln war mittlerweile einem Stirnrunzeln gewichen, und der Blick aus seinen chamäleonartigen Augen schien sich verdunkelt zu haben. Libby fragte sich, wie sie wohl aussehen würden, wenn er ins helle Sonnenlicht lachte. Zum Beispiel, wenn sein Footballteam gerade ein wichtiges Spiel gewann.
Na ja, wahrscheinlich würde sie das nie herausfinden. Was mache ich, wenn sich innerhalb der nächsten fünf Minuten herausstellt, dass wir nicht miteinander klarkommen?, fragte sie sich. Wenn er ganz andere Vorstellungen als ich davon hat, wie wir mit dieser Situation umgehen sollen? Und was macht er dann?
Männer, die es gewohnt waren, immer ihre Entscheidungen durchzusetzen, gaben diese Gewohnheit nur schwer auf. Auf einmal kam es Libby verdächtig vor, wie selbstverständlich Brady Buchanan auf ihrer Veranda stand, das Kinn entschlossen vorgereckt, die Lippen aufeinandergepresst. Er wirkte wie jemand, der an einfache Lösungen glaubte. Seine Lösungen nämlich. Und einen Mann von dieser Sorte brauchte sie nicht noch einmal in ihrem Leben.
Hör auf damit, ermahnte sie sich. Keine voreiligen Schlüsse, bitte! Hör dir lieber erst mal an, was er zu sagen hat. Rede mit ihm, weich den Problemen nicht aus. Behaupte dich. Und, um Gottes willen, sag endlich etwas!
„Kommen Sie doch herein“, meinte Lisa-Belle McGraw endlich, und ihre Stimme klang sanft und höflich. Lange hatten sie sich noch nicht in der Haustür gegenübergestanden, vielleicht eine halbe Minute. Trotzdem kam es Brady eher wie eine halbe
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