Bibel der Toten
lediglich fünf weitere Sekunden.
Aber sie brauchte mehr Zeit, viel mehr Zeit – sie brauchte fünf Minuten, zehn Minuten: bis die Polizei eintraf. Sonst war sie geliefert. Sie rannte weiter. So schnell sie konnte. Sie entwickelte ungeahnte Energien, einen unbändigen Überlebenswillen, den Treibstoff der Existenz. Und sie stürmte in das dunkle Gewirr aus Stahlregalen und Stellagen mit seinen Kisten und Sarkophagen.
Es war ein undurchschaubares Durcheinander – ein paläoanthropologisches Labyrinth. Es war, als wäre sie plötzlich in einem Traum, in einem Albtraum aus ihrer Studienzeit: Anthropologie, Ethnologie und Archäologie – die schaurigschönen Kulturgüter frühzeitlicher Menschen, die für sie jetzt zur Todesfalle wurden. Julia hetzte vorbei an schmutzigen, in der trockenen Luft ausdörrenden Kamelsätteln. An einem Regal mit grienenden Totenmasken aus Kamerun und dem Senegal. Sie streifte eine von ihnen im Vorbeilaufen, und sie fiel zu Boden: eine Maske aus Menschenhaut mit einer Perücke aus Menschenhaar, grinsend an die Decke glotzend.
Dann wieder irgendwelche Gefäße. Weiter. Parfümflaschen aus dem Maghreb. Immer weiter. Marokkanische Teppiche, geknüpft und uralt. Weiter. Okuyi-Helme aus Gabun. Weiter. Sämtliche Vorlesungen, die sie in Ethnologie jemals besucht hatte, waren hier versammelt – zu einem Albtraum verdichtet.
Sie stolperte über einen Soto-Leierstein und kam beinahe zu Fall. Verbeulte, unansehnliche Bronzekessel schlugen gegen ihre Fersen.
Aber ihre Verfolgerin ließ sich nicht abschütteln; sie spähte in die Gänge zwischen den Regalen, hielt nach ihr Ausschau, jagte sie. Julia kam sich vor wie ein kleiner Fisch, der sich unter Korallen vor einem Hai zu verstecken versuchte.
Trotzdem war sie nicht gewillt, klein beizugeben. Sie würde sich erbittert wehren. Wenn sie schon sterben musste, würde sie sich vorher wehren – doch wie? Mit einem Schwert? Gab es hier nicht. Kein Metall. Ein Knüppel? Ja. Ein Knüppel. Eine Keule. Sie hielt in ihrem atemlosen Sprint inne und schnappte sich eine Zeremonialkeule, Tupinamba, brasilianisch, ein hölzerner Prügel, verziert mit scharlachroten Federn und Jaguarzähnen. Damit könnte sie ihre Verfolgerin vielleicht niederschlagen und … Doch schon als sie probehalber damit auszuholen versuchte, merkte sie, dass es keinen Sinn hätte; sie bekäme nur eine Chance, nur einen einzigen Schlag, und wenn sie die bleiche Asiatin damit verfehlte, würde sie sich sofort auf sie stürzen und sie mit ihrem langen Messer aufschlitzen, sie ausweiden wie den Auerochsen in der Höhle von Lascaux. Entmutigt, völlig verzweifelt, warf sie die Keule weg.
Was gab es sonst noch?
Teppiche. Tunesische Teppiche. Ein modriger Schamanenumhang aus Rentierhaut, weitere Kessel, dann eine staubige Schachtel, eine weitere Ecke, um die sie bog, und weitere Regalkilometer. Allmählich verließen sie die Kräfte, und ihre Schritte wurden langsamer. Traurig tobende Verzweiflung ließ wilde Wut in ihr aufsteigen, aber der Überlebenswille, der unbedingte Drang, sich zu wehren, begann zu erlahmen. Sie riss sich zusammen – nein, so durfte sie nicht sterben, nicht hier. Nicht so. Nicht hier. Aber was sollte sie tun?
Ihr blieben nur noch Sekunden. Ihre Verfolgerin war bereits im angrenzenden Gang. Ihre gelblichen Augen – sie schimmerten in der Dunkelheit weiß – spähten zwischen Regalfächern und Schachteln hindurch – und fielen auf Julia. Hab ich dich.
Julia war inzwischen in einer der letzten Regalreihen; sie endete an einer Außenwand des Gebäudes. Sie saß in der Falle – es gab kein Entkommen mehr. Hinter der nächsten Regalreihe war eine Tür – wahrscheinlich führte sie ins Freie. Aber es gab keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Ihre Lage war ausweglos. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Sie blieb stehen. Eine andere Chance hatte sie nicht mehr. Sie musste sich etwas einfallen lassen.
Wenn sie sich gegen ihre Verfolgerin schon nicht wehren konnte, was konnte sie dann tun? Wie konnte sie ihr entkommen?
Sie musste sich verstecken. Sich schützen. Sich verteidigen? Nein, sie musste sich verstecken. Sofort. Hektisch und außer Atem griff sie nach einer hölzernen Rüstung. Ein Brustpanzer, aus Japan, für einen Samurai gemacht. Aber er würde sie nicht schützen; die Asiatin würde ihn einfach wegreißen. Was dann? Was konnte sie sonst tun? Ihre Verfolgerin war noch fünfzig Meter entfernt, schoss gerade um die Ecke. Wie ein vom Himmel
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