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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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mir.
    Dann rief sie Rouvier an.
    Der Polizist nahm sofort ab und hörte sich in angespanntem Schweigen ihre flüsternd vorgetragene Geschichte an. Als sie geendet hatte, erteilte er ihr unaufgeregt und bestimmt seine Anweisungen: Sie solle unverzüglich in ihre Wohnung zurückkehren und sich dort einschließen und außer ihm und der Pariser Polizei niemandem öffnen; er werde ihr, um sie eingehender zu dem Vorfall zu vernehmen, zwei seiner Männer schicken und außerdem jemand in das Archiv des Musee de l’Homme beordern.
    Julia durchströmte ein Schauder tiefer Erleichterung. Da war er wieder, ihr Vater, ganz tief in ihr drinnen, wie er sie im Foyer des heruntergekommenen alten Casinos von Sarnia in die Arme nahm.
    Zaghaft richtete sich Julia auf, um zu gehen – aber sie konnte nicht gehen. Denn jetzt sah sie, was die Frau getan hatte. Die bleiche Asiatin hatte ein Loch in die gläserne Trennscheibe geboxt; durch dieses Loch hatte sie dann anscheinend den Kopf des Pförtners gezogen und ihn so fest nach unten, auf das scharfkantig gezackte Glas, gerissen, dass die Arterien und Venen durchschnitten und der Kopf fast zur Gänze abgetrennt worden waren. Auf die Zacken der zerbrochenen Trennscheibe gespießt, erinnerte er Julia an einen Schweinekopf in der Fleischtheke eines Metzgers.
    Der Mann war eindeutig tot, absurd tot. Sein Blut zog sich kringelnd über den Fußboden, ein dicker, klebrig roter Schellackfirnis. Julia starrte auf das Blut. Sie war wie gelähmt von dem Anblick, von der unglaublichen Brutalität.
    Und dann: ein Geräusch. Das unverkennbare Quietschen von Gummisohlen auf blankem Boden. Die Killerin kam zurück. Julia wurde fast schwindlig vor Angst. Sie hatte das Gebäude gar nicht verlassen; die junge Frau war in die andere Richtung gelaufen und hatte die Türen mit solcher Wucht aufgestoßen, dass auch die Tür ins Freie ins Schwingen geraten und kalte Luft nach drinnen gesaugt worden war; und jetzt stand sie mit ihrem ausdruckslosen, schönen, seltsam unwirklichen Gesicht wieder im Foyer und blickte sich mit wilder, aber überlegter Entschlossenheit um. Julia schrie – sie schrie halb – und rannte los. Sie rannte, weil sie sonst sterben würde.
    Ihr Verstand arbeitete fieberhaft. Bloß nicht auf den Parkplatz hinaus; das wäre das Verkehrteste, was sie tun konnte. Eine große freie Fläche, dreihundert Meter nichts. Die Killerin hätte sie in kürzester Zeit eingeholt – dieser durchtrainierte Körper, diese unfassbare Kraft. Julia musste sich irgendwie, irgendwo verstecken, bis die Polizei im Museum eintraf. Sie musste Zeit gewinnen.
    Deshalb musste sie im Gebäude bleiben. Sie lief nach links, einen langen Korridor hinunter. Julia hörte die raschen Schritte ihrer Verfolgerin hinter sich – aber sich umzublicken, wagte sie nicht; nicht aus Angst, sondern weil es sie wertvolle Zeit gekostet hätte. Ein paar Sekunden mehr oder weniger konnten jetzt über Leben und Tod entscheiden. So schnell, wie sie noch nie in ihrem Leben gelaufen war, rannte sie den Flur hinunter, der immer dunkler wurde und eine Biegung machte und dann noch eine. Sie stürmte an Türen vorbei, an Schachteln mit alten, nach Vernachlässigung riechenden Ledermänteln und an einem Haufen verbeulter Bronzegefäße, die im Halbdunkel ominös schimmerten. Sie stieß sie um, als sie an ihnen vorbeihetzte; die Kessel polterten mit enormem Getöse durcheinander und rollten dumpf hallend wie Bierfässer über den Boden des Flurs.
    Ihre Verfolgerin würde das aber nicht aufhalten, wusste Julia. Sie konnte den lauten, aber regelmäßigen Atem der Asiatin hinter sich hören. Es war der Atem einer durchtrainierten Sportlerin, kompetent und zuversichtlich. Sie schwang sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze über die Dongsang-Kessel. Julia warf sich gegen die Tür am Ende des Korridors, drehte an ihrem Griff, riss sie auf und warf sie krachend hinter sich zu. Vier Sekunden. Sie hatte vielleicht vier Sekunden Zeit, um die Tür zu verrammeln.
    Womit? Sie war jetzt wieder im Archiv, in der hangarartigen Halle mit ihren endlos langen Gängen und der schummrigen Ausweglosigkeit ihrer Regale.
    Ein Totempfahl. Aus British Columbia, etwa zwei Meter hoch, mit Adlerköpfen aus Kiefern- und Zedernholz und bedrohlich gekrümmten Schnäbeln. Er lehnte an einer Tür. Julia stieß ihn um; er fiel in dem Moment, in dem die Tür aufgedrückt wurde, und blockierte sie – aber das würde nicht ausreichen, wurde ihr sofort klar. Damit gewann sie

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