Bibel der Toten
Sandbank gehockt hatten, um ein wenig auszuruhen. Sein dunkles Gesicht war im matten Mondlicht unergründlich.
»Wir sind schon zwei Stunden unterwegs«, sagte Jake. »Wie weit ist es noch?«
Der junge Khmer zuckte nur mit den Achseln. »Nix Englisch, nix Englisch.«
Jake deutete auf sein Handgelenk, wo seine Armbanduhr gewesen wäre, wenn er sie nicht abgenommen hätte. »Ich würde gern wissen …«
Aber er verstummte und bat Chemda, für ihn zu übersetzen. Sie war barfüßig und bis zu den Knien voll Schlamm – wie sie alle; Jake war sogar bis zu den Schultern voll Schlamm. Einmal war er auf dem mühsamen Marsch durch den flachen See hingefallen und fast ganz in das schmutzig graue Wasser eingetaucht. Dabei hatte er so laut geplatscht und um sich geschlagen, dass Rittisak mit einem besorgten Stirnrunzeln den Zeigefinger an seine elegant geschwungenen Khmer-Lippen gelegt und eindringlich »Shhhhht!« gezischt hatte.
Chemda dolmetschte. Rittisak antwortete. Chemda übersetzte.
»Ungefähr drei Stunden noch. Das nächste Stück, sagt er, ist das schlimmste … aber dann wird das Wasser seichter, glaube ich.«
Sie standen auf und rutschten die Sandbank hinunter. Jake machte sich bereits auf den nächsten Sturz gefasst. Die Kälte kroch in seine Füße wie eine Krankheit, wie plötzlicher Wundbrand. Er war nicht sicher, ob er es sich nur einbildete: Das Wasser schien sich mit einem Mal dickflüssiger anzufühlen, kalt und widerlich schleimig. Vielleicht ließ er sich von den Geschichten über die vielen Leichen verrückt machen, die angeblich hier lagerten, die zahllosen Opfer des Schlächters. Er stellte sich Ta Mok als eine Art menschliches Krokodil vor, das auf diese Art seine Nahrung hortete.
Die Müdigkeit setzte Jake immer mehr zu, während sie Rittisaks ausgeklügelter Route folgten, die sich auf dem seichtesten Weg durch das trügerisch sumpfige Wasser wand. Halb im Traum betrachtete Jake die schwarzweißen Nachtvögel, die lauernd wie Geier auf den abgestorbenen Bäumen hockten. Ernährten sie sich etwa von den Leichen? Nisteten sie deshalb hier?
Chemda rutschte erneut ab, und er streckte die Hand aus, um sie zu stützen. Er fragte sich, ob er sie liebte.
Sie wateten weiter. Ihr mühsamer Gang durchs Wasser hatte etwas Hypnotisches: warten, bis Rittisak die beste Passage durch den Morast gefunden hatte, dann seinen Schritten exakt folgen, dann sich gegen einen vergifteten Baum lehnen, dann sich umdrehen und vergewissern, dass Chemda zurechtkam.
Und danach das Ganze wieder von vorn.
Als sie einen großen Teil der Strecke geschafft hatten und wieder einmal Rast machten, drehte sich Jake um und spähte in das mondbeleuchtete Dunkel. Weit hinter ihnen war Ta Moks Haus zu sehen; es lag leicht erhöht am Ufer des Sees. Was war in dem Mann wohl vorgegangen, wenn er in seiner Betonvilla mit diesen dilettantischen Wandmalereien saß und auf das in seinem Auftrag angelegte Reservoir des Todes blickte, aus dem die Fischadler das verwesende Fleisch seiner Opfer zu den Kapokbäumen des fernen Dongrek-Gebirges trugen? Ein schwacher Luftzug kräuselte das Wasser. Ein Vogel querte das fahle Weiß des Monds und verschwand.
Es war drei oder vier Uhr morgens. Wirklich? Wie lang noch bis Tagesanbruch? War das die erste Strähne silbrigen Blaus am fernen Horizont? Vielleicht war es nur eine trostlose kambodschanische Stadt, deren von kahlen Betonsäulen baumelnde Glühbirnen den Himmel verfärbten.
Rittisak sagte etwas und deutete in das Dunkel. Chemda kam an Jakes Seite und hielt seine schmutzige Hand, während sie zuhörte. Dann übersetzte sie.
»Er sagt, jetzt ist es nicht mehr weit. Nur noch ein Kilometer. Dann haben wir das Ufer erreicht. Allerdings kommen vorher noch ein paar tiefe Stellen. Wir müssen also vorsichtig sein. Aber wir sind fast da.«
Fast da, sie hatten es fast geschafft. Die Hoffnung weckte Jakes Lebensgeister. Bald hätten sie die Berge erreicht und könnten in der Trockenheit und Wärme des Waldes rasten. Danach wäre es kein Problem mehr, über die Grenze zu kommen, und dann: endlich in Sicherheit! Nach den Schrecken der vergangenen Tage lockte die Sicherheit und Geborgenheit Thailands. Züge und Telefone und ein Gespräch mit Tyrone. Jake konnte es kaum erwarten, nach Thailand zu kommen, in ein Land, das nicht von zwei Millionen Geistern heimgesucht wurde, in ein Land, das kein gigantisches neak ta war, ein einziges gigantisches Geisterhaus mit mehr Gespenstern als Bewohnern.
Das
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