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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Einheimischen wesentlich freundlicher als in vielen anderen Gegenden. Vielleicht war ihnen, wie Chemda gesagt hatte, jede Form staatlicher Gängelung so zuwider, dass sie sich aus purer Rebellion ganz automatisch auf die Seite von zwei Outlaws wie ihnen stellten.
    Zehn anstrengende und schweißtreibende Minuten später erreichten sie am Ende des Steilabfalls einen verlassenen kleinen Betonbau. Der Mond schien auf verkohlte und abgestorbene, möglicherweise von Bauern brandgerodete Bäume herab. Es lag ein erster Anflug von Dämmerung in der Luft, ein jungfräuliches Erwachen, begleitet von furchtsamem Vogelzwitschern.
    »Wir müssen uns unbedingt ein paar Stunden ausruhen«, sagte Jake zu Chemda. »Kannst du das Rittisak klarmachen?«
    Die beiden sprachen kurz miteinander. Jake sah, wie Rittisak wenig begeistert mit den Achseln zuckte, aber schließlich einlenkte. Okay. Dann schlaft hier. Jake zog sich auf der Stelle in den muffigen Betonbau zurück und legte sich auf den blanken Boden. Als Kopfkissen diente ihm sein Rucksack. Chemda legte sich neben ihn, und sofort überkam ihn tiefer Schlaf, als hätte ihm jemand eine Kapuze über den Kopf gestülpt. Dunkelheit.
    Ihm war alles egal. Er schlief, und er träumte, wie nicht anders erwartet, von Leichen und Gesichtern im Wasser, von seiner Mutter als Meerjungfrau, von seiner Schwester, von den verlorenen Frauen unter Wasser, seufzend und singend, sirenenhaft, exhumiert, mit bleichen Gliedmaßen winkend.
    Als er aufwachte, zeichnete die durch die Fenster fallende Sonne grelle Lichtflecken auf den Boden. Es war schätzungsweise acht Uhr morgens. Jake unterdrückte ein von gleichzeitiger Hitze und Kälte ausgelöstes Schaudern. Doch dann kehrten die hartnäckigen Erinnerungen an den See des Schlächters zurück, und seine Ängste begannen sich wieder hochzuschaukeln. Er fühlte sich fiebrig. Konnte es wirklich noch schlimmer werden? Was war mit ihm los? Ihn überkam das unwiderstehliche Bedürfnis, das Foto seiner Schwester noch einmal zu sehen. Aber wo war es?
    Dann fiel es ihm wieder ein: in seiner Brusttasche. Er hatte sie extra zugeknöpft, nachdem er es auf der langen Fahrt nach Anlong Veng darin verstaut hatte. An der Tasche fummelnd, tastete er nach dem Foto. Aber sie war bereits aufgeknöpft. Sie war aufgegangen. Das Foto war weg. Herausgerutscht und fortgespült, als sie durch den See gewatet waren. Es waren nur noch ein paar Fetzen feuchtes Papier davon übrig. Seine Schwester hatte sich im Wasser aufgelöst. Jetzt hatte sich seine Familie vollends aufgelöst.
    Es fiel ihm schwer, den Schmerz über diesen endgültigen Verlust unter Kontrolle zu bekommen. Doch er mühte sich tapfer. Aber noch während er gegen seinen Kummer ankämpfte, wurde sein Innerstes von einem grausigen Gedanken aufgeschlitzt. Ein Gedanke, den er seit Tagen zu ignorieren versucht hatte – ohne ihn je ganz verdrängen zu können. Und jetzt war dieses letzte Quäntchen Trauer der Auslöser für einen zutiefst beängstigenden Gedanken geworden. Für einen Gedanken, der ebenso erniedrigend wie entwürdigend war.
    Lag ein Fluch auf ihm? Hatte ihn die Spinnenhexe mit einem Fluch belegt?
    Das war natürlich vollkommen absurd. Er war überzeugter Rationalist, Materialist, Atheist. Er hatte keine Angst vor dem Tod, vor Geistern oder Vampiren, Gott oder Grabsteinen oder der Hölle. Er hatte nichts als Verachtung übrig für die absurde, mit großem Getöse aufmarschierende Parade von Religion und Aberglauben.
    Und dennoch, trotz seiner Wut, konnte er diesen Gedanken, diese gespenstische und zugleich lächerliche Vorstellung nicht einfach so abtun. Diese zwielichtige Hexe, diese neureiche alte Schachtel mit ihrem türkisen Paillettenoberteil und den schwarzen Spinnenbeinen in ihrem schamlos schmatzenden Mund – vielleicht hatte sie ihn tatsächlich verhext und mit einem grässlichen Fluch belegt. Ein Unglück folgte auf das andere; das Pech klebte an seinen Fersen wie ein tollwütiger Hund. Und jetzt hatte er auch noch das Foto verloren. Seine Schwester noch einmal verloren.
    Die Sonne schien hell durch die kleinen Fenster des schlichten Betonbaus.
    Chemda war wach und unterhielt sich mit Rittisak. Er redete sehr schnell auf sie ein – und was er sagte, ließ sie sichtlich erbleichen.
    »Das hier ist Pol Pots Haus.« Sie zitterte am ganzen Körper. »Wir sind in Pol Pots Haus. In dem Haus, in dem er seine letzten Lebensjahre verbracht hat. Manchmal kommen Touristen her. Unvorstellbar … komm,

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