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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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ölige Wasser zwischen seinen Beinen bildete im Mondschein silbern schimmernde Regenbogenkringel. Fasziniert blickte Jake nach unten.
    Ein Gesicht starrte zu ihm hoch.
    Er fuhr zusammen, geriet ins Taumeln. Streckte die Hand nach einem abgestorbenen schwarzen Ast aus.
    »Ist irgendwas?«
    »Nein, nein, alles okay.«
    Er log. Er war ganz sicher, ein Gesicht gesehen zu haben, jeden falls eine Art Gesicht, einen Kopf, einen menschlichen Kopf, an dem noch Gewebefetzen hingen; und er hatte sich kurz bewegt. Hatte er das wirklich? Jake war es leid, noch zwischen Realität und Albtraum zu unterscheiden. Längst war alles ein Albtraum. Hinter ihm ertönte ein lautes Geräusch. Ein hektisches platschendes Spritzen, das rasch näher kam. Die Bäume standen an dieser Stelle sehr dicht, der Mond war hinter einer Wolke verschwunden, und das Licht war sehr schwach. Verfolgte sie jemand?
    Er hätte nicht sagen können, wer als Erster die Nerven verlor. Vielleicht Chemda, vielleicht sogar Rittisak. Aber sie gerieten in Panik, alle drei. Nach dem disziplinierten Marsch der letzten vier Stunden rannten sie jetzt blindlings los, beziehungsweise versuchten loszulaufen, denn sie wurden durch das Wasser gebremst. Es war wie in einem Albtraum: Sie liefen und liefen und kamen nicht vom Fleck.
    »Ich stecke fest!«
    Jack fasste hinter sich, packte Chemdas Hand und zog mit aller Kraft, aber der Schlick hielt sie gierig schmatzend fest. Und als er sie endlich freibekam, winkte sie ihn hektisch weiter, denn das Spritzen hinter ihnen wurde immer lauter. Verzweifelt kämpften sie sich durch den Morast, bis plötzlich das Wasser um sie herum abrupt aufwallte, als begänne es zu kochen.
    Schmutziger Schaum stieg an die Oberfläche.
    Jake kämpfte gegen den Drang an, aufzugeben, alles war besser als das . Von dem bedrohlichen Spritzen angetrieben, wateten sie durch im Wasser treibende Leichen. Schienbeinknochen. Menschliche Arme und Oberschenkel. Der See war voller zerstückelter Kadaver, die, von ihren Schritten aufgewühlt, wie traurige graue Holzstücke an die Oberfläche stiegen.
    Die Opfer Ta Moks.
    Der Gestank war unbeschreiblich. Kein Wunder, dass die Nachtvögel hier nisteten: die Räuber und Aasfresser. Fischadler. Geier. Krähenwürger. Tiefe Resignation und Verzweiflung mischten sich mit Jakes Ekel und seiner Angst. Aber sie durften nicht stehen bleiben; sie mussten weiter, um dem zu entkommen, was sie verfolgte.
    Der Mond kam hinter den Wolken hervor – und mit ihm keimte wieder Hoffnung auf. Mit zusammengekniffenen Augen watete Jake voran. Sie hatten es fast geschafft: ans andere Ufer, wo der künstliche See auf einen künstlichen Strand traf. Rittisak war bereits auf festem Untergrund und streckte ihnen die Hände entgegen; Jake griff nach einer von ihnen und wurde ins Trockene gezogen; hinter ihm kam schnaufend und prustend Chemda an Land. Sie ließ sich auf der schwarzen Erde in die Hocke sinken und drehte sich um.
    Der Mond brach jetzt vollends durch die Wolken und enttarnte ihren Verfolger. Es war nur ein Wasserbüffe, der inzwischen inmitten der im Wasser treibenden Knochen stehen geblieben war. Ein dunkelgrauer Umriss in hellerem Grau.
    Rittisak klatschte in die Hände. Der Büffel schnaubte verächtlich, dann drehte er sich um und watete behäbig davon.
    Eine Weile saßen sie keuchend und zitternd da und rieben sich mit Blättern und Farnen, so gut es ging, den Schmutz von Händen und Füßen. Alle husteten schmutziges Wasser. Noch immer sagte niemand ein Wort. Chemda schien den Tränen nahe, aber wie immer erstickte sie sie im Keim. Mannhaft.
    Es herrschte ehrfürchtiges Schweigen. Totale Stille, Omertà . Vielleicht, dachte Jake, überstieg das, was sie gerade erlebt hatten, jede Unterhaltung: zu grauenhaft, um in Worte gekleidet zu werden. Vielleicht würden sie über all das nie wieder sprechen. Keinem Menschen gegenüber, auch nicht untereinander, bis ans Ende ihrer Tage.
    »Los«, sagte Chemda. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

28
    K ommt.«
    Der Aufstieg begann. Das Gelände war schroff und unwegsam, aber es war trocken, eindeutig besser als der Marsch durch das Reservoir des Schlächters. Dornen zerkratzten ihre Hände. Chemda hielt sich an Jakes Armen fest. Rittisak sprang mit der Wendigkeit eines Sherpa von Fels zu Fels, half Jake und Chemda den steilen Hang hinauf, deutete auf Wurzeln und Äste, die sie als Steighilfe verwenden konnten. Jake fragte sich, warum Rittisak so entgegenkommend war. Hier waren die

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