Bibel der Toten
außerordentlich aufschlussreichen Biographie aufwarten.
Sergej Jakulowitsch: sowjetischer Primatologe, studierte an der Staatlichen Universität Moskau und spezialisierte sich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Gehirnen von Menschen und Primaten.
Julias Augen begannen vor Aufregung zu leuchten.
Aber das war noch nicht alles: Seit 1979 ist Sergej Jakulowitsch Leiter des Zentrums für Primatenforschung in Abchasien, Georgien; das umstrittene Forschungsinstitut ist vor allem für seine Versuche bekannt, Homo sapiens mit Menschenaffen zu kreuzen.
Diese Entdeckung traf Julia mit geradezu körperlicher Wucht. Dieser Jakulowitsch leitete ein Institut, das immer noch damit experimentierte, Menschen mit Tieren zu kreuzen. Der Herausgeber der Fachzeitschrift, die Ghislains Beitrag veröffentlicht hatte, lebte noch. War noch wissenschaftlich tätig. War noch erreichbar. In Abchasien, in dieser von tiefen Unruhen erschütterten Schwarzmeerregion an den Rändern des zerfallenen Sowjetreichs.
In Gedanken flog Julia, ebenso beklommen wie aufgeregt, an diesen fernen Ort und versuchte, ihn sich vorzustellen – was ihr nicht gelang. Sie schaute wieder auf den Bildschirm. Auf der Internetseite war sogar Sergej Jakulowitschs E-Mail-Adresse angegeben. In Abchasien!
Ihr Entschluss stand bereits fest. Sie musste mit diesem Mann Verbindung aufnehmen. So bald wie möglich. Vielleicht hatte er noch eine Ausgabe der Zeitschrift mit Ghislains Beitrag. Vielleicht hatte er eine Antwort auf all ihre Fragen. Und sein Fachgebiet – die Kreuzung von Menschen und Primaten – passte bestens in das Puzzle. Da musste ein Zusammenhang bestehen.
Aber sie tat gut daran, sich ihr Vorgehen gründlich zu überlegen. Sie konnte diesem Jakulowitsch nicht einfach eine Mail schicken und ihn ganz direkt fragen. Dann rückte er möglicherweise gar nichts heraus, sondern machte bloß dicht und versperrte ihr den einzigen Zugang zu diesem Labyrinth. Vielleicht war es das Beste, einfach hinzufahren. Nach Abchasien. Warum nicht? Sie hatte das nötige Geld und die Zeit sowieso – und vielleicht hatte sie inzwischen auch den Ehrgeiz und, nachdem sie im Archiv den Angriff der Killerin überlebt hatte, sogar das nötige Selbstvertrauen. Außerdem hatte sie sonst nichts zu tun. Der Gedanke, jetzt nach London zurückzukehren und sich mit der Eintönigkeit des Unterrichtens, des englischen Winters und der tagtäglichen Sinnlosigkeit ihrer stockenden Karriere herumzuschlagen, schien ihr plötzlich unvorstellbar. Nicht nach dem, was sie erlebt hatte.
Alex kam ins Zimmer. Er mampfte ein Croissant und hatte Le Monde dabei.
»Morgen, Schatz.«
»Morgen«, murmelte sie abwesend.
»Hallo. Ist irgendwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, alles okay.«
Sie beobachtete ihn, wie er sich setzte und sich hinter seiner Zeitung verschanzte, ohne sie wirklich zu lesen. Und dann traf sie ihre Entscheidung: Sie würde das ganz allein durchziehen. Sie hatte die Nase voll von Männern, die sie nicht ernst nahmen. Ihr Vater. Ihr Chef in London. Sogar Alex waren ihre kühnen Ideen peinlich; selbst Rouvier nahm sie, wenn auch auf äußerst charmante Weise, nicht richtig ernst. Alle Männer in ihrem Leben, angefangen bei ihrem Vater bis zu Ghislain, hatten sie immer von oben herab behandelt – selbst wenn sie es nicht böse meinten. Jetzt würde sie es ihnen allen zeigen – und sich ihren Respekt verdienen.
»Soll ich noch mal Kaffee machen?«, fragte Alex.
»Ja«, sagte sie. »Kaffee wäre gut.«
27
E r konnte sich nicht dazu überwinden, nach unten zu blicken. Er wollte auch nicht vor oder hinter sich oder sonst irgendwohin schauen. Er spürte Schlick oder vielleicht noch Unangenehmeres zwischen seinen Zehen. Ein kalter Schauder fraß sich hartnäckig durch seine Glieder. Das Mondlicht polierte das spiegelglatte Wasser, zeichnete die abgestorbenen schwarzen Bäume scharf gegen das stumpfe Silber ab.
Der See des Schlächters. Sie hatten etwa ein Drittel der Strecke zurückgelegt, und es war bereits weit nach Mitternacht.
»Vorsicht.«
Jake streckte die Hand nach Chemda aus, die in dem fauligen Modder ausgeglitten war.
»Danke.«
Er half ihr auf eine kleine Insel mit der obligatorischen schwar zen Baumleiche darauf. Ein großer weißer Wasservogel flatterte aufgeschreckt in die Weiten des Nachthimmels davon, bis das Weiß seiner Schwingen in der Dunkelheit verschwand.
Rittisak blickte sich zu seinen Schützlingen um, die sich auf die verschlammte
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