Bibel der Toten
Verloren siechten sie vor einem geschlossenen konstruktivistischen Kino langsam dahin. Die Eisdielen waren im Winter geschlossen. Die Abendkälte kroch langsam herauf.
Julias Weg führte jetzt auf den Hügel. Sie zog die misstrauischen Blicke slawisch blasser Passanten und dunkelhäutigerer muslimischer und georgischer Gesichter auf sich. An einer Straßenecke blieb sie stehen. Von irgendwoher kam ein widerlicher Geruch. Der Gestank eines schlecht geführten Zoos?
Ihre Ahnung bestätigte sich. Nur wenige hundert Meter weiter erreichte sie einen an mehreren Stellen aufgerissenen Maschendrahtzaun, der keine erkennbare Funktion mehr erfüllte. Auf einem am Tor angebrachten Schild stand in mehreren Schriften und Sprachen, darunter auch Englisch: Institute for Experimental Primate Pathology and Therapy – Institut für experimentelle Primaten-Pathologie und Therapie.
Das Tor war offen. Julia betrat das Gelände des Forschungsinstituts. Männer und Frauen in schmutzigen weißen Kitteln kamen ihr entgegen: offensichtlich Mitarbeiter, die sich nach Büroschluss auf den Heimweg machten. Sie bedachten die gut gekleidete Frau aus dem Westen zunächst mit argwöhnischen, dann nur noch mit apathischen Blicken.
Wenig später war Julia ganz allein auf dem riesigen Gelände: eine üppig wuchernde, dunstige, abfallübersäte Parkanlage, durchsetzt von staubigen Zypressen und rostigen Metallkäfigen voll verwahrloster Affen. Einige dieser bemitleidenswerten Geschöpfe trugen tätowierte Nummern auf ihren blassen rasierten Brustkörben; kleine Affen blickten der eigenartigen Fremden mit unbeschreiblich traurigen Augen entgegen, wie vernachlässigte Kinder in einem abscheulichen Waisenhaus.
Julia musste an das Gefühl denken, das sie immer überkommen hatte, wenn sie auf der Cham des Bondons die Eisenleiter in die Höhle der Schwellung hinabgestiegen war. Nicht viel anders verhielt es sich hier: ein vorübergehender Abstieg – physisch wie moralisch – zu einem der finsteren Orte dieser Erde. Dennoch ein Abstieg, den sie bewusst in Kauf nahm. Um die Wahrheit herauszufinden, musste man sich in die Niederungen und Höhlen hinabbegeben.
Sie kam an weiteren Käfigen und Gehegen vorbei. In einem hockten zwei verloren wirkende Gibbons, ein anderer schien leer – bis sie hinter einer Pappschachtel einen Orang-Utan kauern sah, der leise zu schluchzen schien. In der Ecke eines anderen Käfigs kauerte ein räudiger Gorilla, daneben hausten zwei heruntergekommene Schimpansen, reglos vor Unglück und mit ihrem eigenen Kot beschmiert.
In einem deutlich kleineren Käfig zwischen den großen Gehegen war ein zierlicher kleiner Affe untergebracht, ein Rhesus möglicherweise. Er kreischte und geiferte, rannte vollkommen außer sich von einer Seite zur anderen, berührte eine Reihe von Gitterstäben, um dann unter lautem Kreischen auf die andere Seite zurückzulaufen, wo er wieder kreischte, als bekäme er jedes Mal heftige Stromschläge, wenn er die Gitterstäbe berührte. Eine Hälfte seines Schädels war kahl geschoren. Er war umgeben von Orangenschalen, verstreuten Körnern und grünlich gelben Urinpfützen.
»Nicht zu fassen«, murmelte Julia, den Tränen nahe. »Wie ist so etwas möglich?«
Es war abstoßend. Warum hielten sie die Tiere nicht unter halbwegs sauberen Bedingungen oder ließen sie einfach frei?
Aus finanziellen Gründen? Vielleicht. Im Zug ihrer Recherchen hatte sie gelesen, dass die unter großer Kapitalknappheit leidenden Abchasier ihre Finanzen im Sommer mit einem Zoo aufzubessern versuchten. Wahrscheinlich kamen die Besucher, um über die mit Kot um sich werfenden Gibbons zu lachen.
Als Julia schließlich vor dem Eingang des Forschungsinstituts stand, rekapitulierte sie noch einmal die erfundene Biographie, die sie sich für die E-Mail-Korrespondenz mit Sergej Jakulowitsch zurechtgelegt hatte. Sie war Archäologin, eine Freundin von Ghislain Quoinelles, und schrieb nach seinem tragischen Tod einen Artikel über sein Leben und seine wissenschaftlichen Leistungen. Sie empfände es als große Ehre, von einem alten Kollegen Ghislains wie dem großen Jakulowitsch empfangen zu werden.
Bis zu einem gewissen Grad hatten diese E-Mails ihren Zweck erfüllt, auch wenn sich Jakulowitsch keine konkreten Informationen hatte entlocken lassen. Aber nach entsprechender Überzeugungsarbeit hatte er sich schließlich zu einem Treffen bereit erklärt. Wenn Sie wirklich mehr über meine Arbeit erfahren wollen, dann kommen Sie mich
Weitere Kostenlose Bücher