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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Jake die Kamera aus seinem Rucksack und richtete sie auf das Motiv.
    Rittisak wurde zusehends nervöser. Chemda gestikulierte ungeduldig.
    »Jetzt mach schon, Jake, beeil dich. Wir müssen weiter!«
    »Nur ein paar Fotos. Wartet. Nur noch ein paar.«
    Er kniete nieder und machte einige weitere Aufnahmen. Dann stand er mit der kleinen Kamera auf und machte zwei Schritte zurück, um auch die Umgebung des Grabs aufs Bild zu bekommen. Er schaute auf das Kameradisplay und sah vier Soldaten mit Gewehren, die gerade auf die Lichtung gekommen waren und nicht richtig in den Bildausschnitt passten.
    Die vier Soldaten, die ihre Gewehre jetzt auf Jake, Chemda und Rittisak richteten.
    »Chemda«, hauchte er.
    Viel zu spät. Das durfte ja wohl nicht wahr sein? So blöd konnte doch niemand sein. Sich so einfach überrumpeln zu lassen. Die Soldaten grinsten und lachten und fuchtelten mit den Gewehren. Einer erteilte triumphierend Befehle. Schrie Jake ins Gesicht.
    Es war nicht zu fassen. Wie hatte er so blöd sein können. Diese himmelschreiende Dummheit. Es war alles seine Schuld. Hätte er Chemda und Rittisak nicht aufgehalten, um die Fotos zu machen, wären die Soldaten vielleicht gar nicht auf sie aufmerksam geworden; sie wären einfach weiter die Straße entlanggegangen und hätten sie gar nicht an dem idiotischen Grab bemerkt.
    Rittisak und Chemda bekamen ein Gewehr an den Kopf gedrückt. Wie betäubt vom Schock ihrer Niederlage, ließ sich Jake widerstandslos Handschellen anlegen. Unter den Soldaten entbrannte heftiger Streit. Sie grinsten und lachten zwar weiterhin gut gelaunt, aber sie stritten auch miteinander. Schweigend legte der jüngste Soldat auch Rittisak und Chemda Handschellen an. Der Anführer des Trupps erteilte einen Befehl. Der jüngste Soldat zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
    Darauf begannen die Soldaten erneut, aufgeregt durcheinanderzuschreien. Der Anführer fuchtelte mit einer Eisenstange. Dann gab er sie dem jungen Soldaten und bellte einen schroffen Befehl. Eine Metallstange? Auf einer einsamen Lichtung? Bestürzt hielt Chemda die Hände vors Gesicht.
    Die Einsicht kam Jake mit übelkeiterregender Plötzlichkeit: Die Soldaten berieten, ob sie sie umbringen sollten.
    Irgendwo sang melodisch ein Vogel. Die Entscheidung war gefallen. Der Soldat salutierte. Die Diskussion war beendet. Jake konnte auf der Straße ein Auto vorbeifahren hören, er nahm die Geräusche eines Funkgeräts wahr und einen Hahn, der in den tropischen Morgen krähte. Es roch nach Essen und Holzfeuern, nach Wald und in der Sonne schmorendem Müll.
    So muss man sich das also vorstellen, dachte Jake. Nichts mit Engelschören oder schönen Versen, sondern der Gestank von Müll!
    Chemda versuchte, zu protestieren; die Soldaten schenkten ihr keine Beachtung. Sie drückten Rittisak auf die Knie und zwangen ihn, einen Kotau zu machen. Ein Soldat trat Jake mit solcher Wucht in die Kniekehle, dass er in die Knie sank: ein armer Sünder, der im heißen Staub an Pol Pots Grab betete.
    Der Gestank von Müll.
    Jake drehte den Oberkörper zu Chemda. Sie wurde an den Rand der Lichtung geführt, als hätte sie eine Sonderstellung. Mit einem Schauder stummer Verzweiflung wurde Jake bewusst, wie er sterben würde. Er war auf den Killing Fields von Cheung Ek gewesen. So hatten sie es gemacht. So hatten die Roten Khmer ihre unzähligen Opfer getötet: mit ebenso simpler wie primitiver Effizienz. Niederknien lassen, mit der Eisenstange ausholen und ein Schlag auf den Hinterkopf. Der Nächste bitte. Wieso eine Kugel verschwenden?
    Inzwischen konnte er Chemda haltlos schluchzen hören. Die Soldaten unterhielten sich murmelnd. Die Entscheidung war gefallen. Jetzt galt es nur noch, die Pflicht zu erfüllen. Rittisak starrte in den Himmel. Jake starrte auf Pol Pots Grab. Die Räucherstäbchen brannten noch. Aus dem Unterholz führte eine Ameisenstraße zu den verschrumpelten Äpfeln und einer leeren Chilisoßenflasche.
    Der Soldat mit der rostigen Eisenstange kam auf Jake und Rittisak zu. Gleich würde er damit ausholen und ihnen den Schädel zertrümmern. In Erwartung des nahen Todes schloss Jake die Augen. Irgendwo im Dunkel seiner Gedanken schluchzte Chemda. Er konnte den Anführer ein paar knappe Befehle erteilen hören. Das war’s dann wohl. Bringt die beiden um. Die Welt schrumpfte zu einem reglosen, stummen Punkt in der Einzigartigkeit seines Lebens zusammen, und jetzt, an seinem Ende angelangt, dachte er an seine Schwester, an

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