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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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ausgelassenes Gelächter, an seine Mutter, an Traurigkeit und an Chemda und an Mama Brands Instant-Reisnudeln, die in der Sonnenhitze vor sich hin gammelten.

29
    A ffenlabor, dachte Julia. Wie sagte man das auf Russisch? Hatte sie sich das nicht irgendwo aufgeschrieben?
    Sie griff nach ihrem Notizbuch und drehte sich zu dem Mann mit der provisorisch geflickten Nickelbrille, der auf dem verlassenen Parkplatz des Bahnhofs von Sochumi stand.
    »Obez’ … janii pitomnik.«
    Der Mann nickte. »Da! Obez’janii pitomnik.« Sein Nylonhemd war speckig, sein Kinn unrasiert, seine Krawatte fleckig. Er lächelte mit hilfsbereitem Eifer und deutete die Straße hinunter. Julia folgte seiner Geste mit einem Anflug von Widerwillen. Die Straßen vor dem Bahnhof waren von Schlaglöchern übersät, die rissigen Gehsteige von Unkraut überwuchert. Die Stadt schien wie jede andere Stadt an der stark verschmutzten Ostküste des Schwarzen Meers zu sein: stinkend, verfallen, desolat – von den jüngsten Kriegen um Unabhängigkeit, Annexion und Abspaltung massiv zerstört. Eine postkommunistische ehemalige sowjetische Teilrepublik der schlimmsten Sorte.
    »Da!« Der Mann gestikulierte noch einmal. Seine Hand war derb und kräftig, seine Fingernägel schmutzig. Er schien ihr sagen zu wollen, sie solle geradeaus gehen und dann nach rechts, einen Hügel hinauf. »Obez’janii pitomnik!«
    »Spasibo.« Julia steckte ihr Notizbuch ein und ging rasch los.
    Müdigkeit lauerte. Julia war sehr erschöpft nach dem Flug von Paris nach Moskau und weiter nach Adler und von der anschließenden Zugfahrt am trüben grauen Wasser der Schwarzmeerküste entlang. Aber Julia stand dicht vor dem Ziel, und ein Adrenalinstoß überspielte ihre Erschöpfung. Sie ging rasch in die Stadt.
    Der subtropische Seehafen war kühl und klamm – und befremdlich. Julia wünschte sich, Alex wäre bei ihr. Nach einigem Überlegen hatte sie beschlossen, ihm von ihrem Vorhaben zu erzählen, und es hatte sie nicht im Geringsten überrascht, als er es ablehnte, sie zu begleiten. Er hatte nur gesagt: »Du bist völlig verrückt, Schatz«, und hatte sie davon abzubringen versucht, aber sie hatte es sich nicht ausreden lassen. Und deshalb war sie jetzt hier.
    Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war sie verrückt. Sie war in Abchasien. Sogar ihr Reiseziel war verrückt.
    Was hoffte sie hier zu finden? Die Wahrheit? Richtig, die Wahrheit, die sonst niemand aufzudecken versuchte, die Wahrheit über die Schädel, die Höhlen, die Knochen, die Höhlenkunst, die Wahrheit über Annikas Tod. Vielleicht würde sie aber auch nichts finden.
    Sie kam an einer Reihe Cafés vorbei, an deren schmutzigen Fenstern Frauen mit scheußlichen Leggins saßen und missmutig auf ihre in Plastikkinderwägen quengelnden Babys blickten. Ein Obdachloser saß zusammengesunken im demolierten Unterstand einer Straßenbahnhaltestelle, deren verdreckte zerbrochene Glaswände mit abblätternden Werbeplakaten bepflastert waren. Bürogebäude, scheinbar zu fensterlos und heruntergekommen, um noch zu irgendetwas nutze zu sein, spuckten Angestellte aus, die sich auf den abendlichen Nachhauseweg machten.
    Julia sah auf die Uhr. War es noch offen? Wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, wollte sie nicht über Nacht an diesem Ort bleiben. Er war so erschreckend trostlos und deprimierend.
    Nein. Sie musste ihre Ängste in den Griff bekommen, sie niederringen. Und beherzigen, was der Mann am Bahnhof gesagt hatte. Oben auf dem Hügel. Das war, was er gesagt hatte, auf Russisch. Oder hatte er Georgisch gesprochen? Oder Abchasisch? War doch egal.
    Julia trottete weiter und schaute sich im Gehen immer wieder um: wachsam, isoliert, auffällig.
    Das Schlimme an Sochumi war, dass es einmal eine schöne Stadt gewesen sein musste: ein urwüchsiger, volkstümlicher, sympathischer Badeort, der in den idealistischen kommunistischen Sommern vor fünfzig Jahren gefeiert worden war, in jenen heiteren Sommern, die auf verblichenen Fotos aus der Ära Chruschtschow festgehalten waren: Kommunismus unter Palmen und sonnige Strände, an denen aufgedunsene, blasse russische Arbeiter und ihre dicken, glücklichen Frauen in großen schwarzen Badeanzügen in den sonnigen Badeorten der Schwarzmeerküste wie Jalta und Sotschi – und eben Sochumi – ihren vierwöchigen Sommerurlaub verbrachten.
    Von dieser einstigen Pracht waren jetzt nur noch die Palmen übrig geblieben, alte und kranke Bäume, staubig und traurig, von Geschossen zerfetzt.

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