Bibel der Toten
Tatort, an den Schauplatz des Verbrechens zurückgekehrt sind! Sie haben die Schuldgefühle zu verarbeiten versucht, die sie mit einem mal empfanden, als sie diese Tiere leiden sahen. Eine psychologische Reaktion auf ein Trauma also.«
Jake nickte. Sein Lächeln war verhalten. Das Wort Trauma erinnerte ihn an Chemda. Er schaute wieder einmal auf sein nutzloses Handy, zwang sich dann aber, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Das, ähm, hört sich auf jeden Fall alles hochinteressant an. Aber steht diese Theorie nicht auf etwas wackligen Beinen?«
»Da gibt es noch mehr«, fuhr Julia fort. »Meine Theorie – Ghislains Theorie – erklärt auch, warum wir Tiere abgebildet finden, die nie gejagt wurden, und warum diese Tiere mit so großer Ehrfurcht dargestellt sind. Der Grund dafür ist Neid. Die gerade modern gewordenen Menschen sehnten sich nach dem Zustand paradiesischer Unschuld zurück, in dem sie einst gelebt hatten, nach der noch nicht von Schuldgefühlen getrübten Freiheit, als sie das Töten von Tieren noch als Triumph empfanden. Deshalb haben sie diese Tiere sozusagen in einem Akt der Verehrung, neidischer Verehrung, gemalt. Das hilft auch, die rätselhaften Darstellungen von Menschen mit Tiermasken zu erklären, wie etwa den Sorcier aus den Trois Frères ; dabei handelt es sich um Abbildungen von Menschen, die wieder Tiere werden wollen. Die Menschen der Eiszeit fühlten sich plötzlich von ihren Mitgeschöpfen ausgeschlossen – und blickten voller Bedauern auf den Urzustand zurück.«
Jakes Miene war skeptisch.
»Na ja, meinetwegen.«
»Ein weiterer rätselhafter Aspekt der Höhlenkunst ist, warum es in dieser Zeit so wenige Darstellungen von Menschen gibt. Ich erinnere mich noch gut, dass meine Freundin Annika diesen Sachverhalt einmal angesprochen hat. Das war einer meiner ersten Anhaltspunkte. Aber inzwischen ist mir vollkommen klar, warum das so ist.« Julia seufzte. »Alles was wir in den Höhlen an Menschendarstellungen vorfinden, sind ein paar primitive Skizzen. Bei den meisten scheint es sich um obszöne Karikaturen eher beleidigenden Charakters zu handeln, wie zum Beispiel die dickbrüstigen Frauen von Pech Merle oder der grienende Schwachsinnige von La Pasiega oder die komischen Gesichter von Rouffignac. Also, warum gibt es nur so wenige Menschendarstellungen, und warum sind sie durchgehend so geringschätzig und derb?« Julia machte so gut wie keine Pause; ihre Frage war rhetorisch. »Der Mensch ist nicht gerade bekannt für seinen Mangel an Eitelkeit und Selbstbespiegelung. Tausende von Jahren haben wir uns selbst gemalt und gezeichnet und sonst irgendwie dargestellt, aber in der Zeit zwischen dreißigtausend und zehntausend vor Christus, in einer Zeit also, in der wir wahrhaft große und technisch versierte Künstler hatten, Künstler, die mit wenigen Strichen einen Auerochsen oder einen Löwen zum Leben erwecken konnten … als wir also Künstler hatten, die man ohne Übertreibung als Steinzeitmatisses oder -Raffaels bezeichnen könnte, haben diese Künstler sich beharrlich geweigert, die Schönheit von Männern und Frauen darzustellen. Entweder haben sie ihresgleichen einfach ignoriert, oder sie haben sie auf eine so obszöne und beleidigende Weise dargestellt, als ob sie für sich selbst, für die Menschheit als Ganzes, nur Verachtung übrig hätten.«
Barnier, der inzwischen ganz bei der Sache war und nicht mehr rauchte, unterbrach Julia erneut. »Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche andere Beweise, habe ich recht?«
»Ja.« Julia nickte energisch. »Wenn etwa die ersten Menschendarstellungen auftreten, bei denen es sich nicht nur um abfällige Kritzeleien oder Karikaturen handelt, sind darin Menschen abgebildet, die gefoltert oder mit Spießen getötet werden. In den Höhlen von Cougnac gibt es die sogenannten hommes blessés , die verwundeten Menschen, Menschen, die mit Speeren getötet werden. Oder die gefolterten Jungen von Addaura. Welche Verzweiflung muss hinter diesen Darstellungen gesteckt haben? Weshalb dieser unübersehbare, zutiefst existenzielle Selbstekel?«
»Aha«, sagte Jake. »Und was war der Grund dafür?«
Julia sah ihn an. »Jetzt kommen wir zu Gargas. Zu den berühmten Händen von Gargas. Ein Jahrhundert lang waren diese Hände für die Forschung ein vollkommenes Rätsel. Einige sind der Ansicht, sie zeigten Erfrierungen in der Eiszeit. Aber warum sollte sich jemand die Mühe machen, solche schweren Verletzungen nachzuzeichnen? Andere vertreten die
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