Bibel der Toten
sich bei der Hexe, der Killerin, nicht um Chemda handelte. Julia hatte sich, was diese Verwechslung anging, ausgiebig und tränenreich entschuldigt. Aber das beantwortete keine von Jakes anderen Fragen. Fragen, die Jake von innen heraus auffraßen. Wo war Chemda? Wer hatte sie entführt? Die Laoten? Ihre eigene Familie? Ehemalige Rote Khmer? Hatten es die Entführer auch auf Jake abgesehen? Und würden sie sich, wenn sie ihn fanden, überhaupt die Mühe machen, ihn zu entführen? Würden sie ihn vielleicht einfach umbringen, wie sie das bereits zuvor versucht hatten?
Er musste an die Gerüche und Sinneseindrücke dieses grässlichen Moments denken: wie er an Pol Pots Grab unwillkürlich zu beten angefangen hatte; wie er auf die in einem alten Nudelbecher steckenden Räucherstäbchen gestarrt hatte; wie der Gestank des vergammelnden Mülls in seine Nase gestiegen war; wie er, einer angepflockten Ziege gleich, auf den Tod gewartet hatte. Er wusste, dass ihm das jeden Moment wieder passieren konnte – trotzdem wollte er unter keinen Umständen fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Wegen Chemda. Er durfte Chemda nicht im Stich lassen. Jetzt nicht und grundsätzlich nicht. Zwei Frauen hatte er in seinem Leben bereits verloren. Aber die dritte würde er wiederfinden. Eine andere Wahl hatte er nicht, sonst wäre sein Leben nur noch Rauch und Asche.
Jake sah seine Begleiter an. Julia – elend, ernst, von Gewissensbissen geplagt. Und Barnier, alkoholisiert, ängstlich und feixend. Aber wenigstens machten sie einen relativ gefassten Eindruck. Jake war alles andere als gefasst. Er stand unter Hochspannung. Gereizt. Hektisch. Er wollte etwas tun. Egal was, Hauptsache, irgendetwas.
»Warum haben Sie uns eigentlich hierher bestellt, Marcel?«
Der Franzose nahm einen Schluck von seinem Mekong-Whiskey.
»Weil ich wissen möchte, was Sie herausgefunden haben und ob wir uns vielleicht gegenseitig weiterhelfen können. Julia scheint sogar eine Theorie zu haben.«
»Eine Theorie?«
»Ja, was vor dreißig Jahren in Kambodscha passiert ist. Julia meint, sie wüsste jetzt, warum es zu dem allem gekommen ist. Sie glaubt, die theoretische Basis dafür zu kennen.«
Jake wandte sich der blassen Amerikanerin zu.
»Ja«, sagte Julia darauf sehr leise, fast so, als spräche sie mit sich selbst. »Ich glaube zu wissen, aus welchen theoretischen Erwägungen heraus diese Wissenschaftler neunzehnhundertsechsund-siebzig nach Phnom Penh eingeladen wurden.«
»Aha! Dann ist das jetzt genau der richtige Moment, um damit herauszurücken!« Barnier grinste ordinär, vielleicht auch ein wenig verzweifelt. »Ideen, Theorien, Spekulationen, nur zu. Tun Sie sich keinen Zwang an! Könnte ja sein, dass es uns weiterbringt – oder Chemda hilft. Möglich ist alles. Allez, les braves! «
Barnier zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch durch die Nase. Jake starrte dumpf auf die ekstatisch flimmernden Neonlichter der nächsten Sushi-Bar und quittierte seine Unentschlossenheit mit einem resignierten Achselzucken. Dann schaute er wieder einmal auf das Display seines Handys. Nichts. Absolut nichts. nichts, nichts, nichts.
Es gab nichts Besseres zu tun, nichts anderes, was sie hätten tun können. Warum also nicht diskutieren?
Der alte Franzose machte eine aufmunternde Geste in Richtung Julia.
»Fangen Sie doch einfach mal an.«
In fünf für sie extrem peinlichen Minuten umriss sie ihre Hypothese. Sie tat es in nüchtern präziser, angesichts der Umstände beinahe schockierend wissenschaftlich neutraler Sprache. Die Wörter waren lang und glitschig; Jake fiel es schwer, ihnen zu folgen. Hartnäckig kehrten seine Gedanken immer wieder zu Chemda zurück. Dieses Problem hatte Barnier nicht. Er sagte ständig: »Ja, genau«, grinste verlegen und blies in triumphierender Zustimmung Zigarettenrauch in die Luft, als gewänne er gerade eine Partie Poker. Mit purem Bluff.
»Eine hochinteressante These«, erklärte Barnier, als Julia geendet hatte. »Sie ist zweifellos richtig. Und es ist mit Sicherheit das, was auch Ghislain in seinem Artikel postuliert hat. C’est magnifique! Sie sind nicht nur eine wahre Wissenschaftlerin, sondern auch eine hervorragende Detektivin!«
Julia wirkte halb erfreut, halb peinlich berührt. Jake verstand überhaupt nichts mehr.
»Könnten Sie mir das alles vielleicht ein bisschen langsamer erklären und in leichter verständlichen Worten? Ich bin schließlich nur ein einfacher Fotograf. Einer, der
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