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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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unbedarft Schnappschüsse macht.«
    Julia bedachte ihn mit einem verständnisvollen Lächeln. »Natürlich. Entschuldigung. Aber zuerst müssen Sie sich dabei über ein paar grundlegende Dinge der Evolution des menschlichen Verstands klar werden.«
    »Okay.«
    Geduldig erklärte sie Jake, was es mit der sogenannten behavioral modernity auf sich hatte, der in Wissenschaftskreisen weithin akzeptierten Ansicht, dass die Menschen vor zirka vierzigtausend Jahren in ihren kognitiven Fähigkeiten und ihrer kulturellen Entwicklung einen gewaltigen Sprung gemacht haben. Jake nickte.
    »Also Höhlenkunst, Musik, Religion und was sonst noch alles dazugehört, rituelle Begräbnisse und die Herstellung von Werkzeug … dann tritt all das in dieser Zeit zum ersten Mal auf?«
    »So ist es.« Barnier nickte. »Abstraktes Denken! Teamwork bei der Jagd. Sogar Humor. All diese Dingen bildeten sich in dieser Phase heraus. Es gibt viele, sehr viele Hinweise darauf, dass sich in der Eiszeit im menschlichen Verstand, im menschlichen Geist ganz plötzlich eine dramatische Veränderung vollzog.«
    »Und warum kam es zu dieser abrupten Veränderung?«
    Barnier blies einem vorbeifahrenden Tuk-Tuk Rauch hinterher. Er schien jetzt Feuer und Flamme und trotz seines Alkoholkonsums glasklar. »Infolge genetischer Mutationen. Oder aufgrund einer Veränderung der neuronalen Strukturen. Oder beides! Mit Sicherheit kann das niemand sagen.«
    »Das heißt also … Könnten wir vielleicht noch einmal alles durchgehen? Von Anfang an? Die ganze Hypothese?«
    Julia nickte schüchtern: »Sie ist eigentlich ganz simpel, aber, wie bereits gesagt, sehr tief greifend. Im Grund genommen könnte man sagen, dass die Entstehung der Kunst, wie sie sich in den eiszeitlichen Höhlenmalereien manifestiert, die Entstehung eines menschlichen Schuldbewusstseins widerspiegelt, und dieses Schuldbewusstsein ist der Schlüssel zur modernen conditio humana , zur aktuellen Befindlichkeit des Menschen.«
    »Aha …?«
    »Außerdem deutet Verschiedenes darauf hin, dass wir uns um vierzigtausend vor Christus als Spezies zum ersten mal richtig unserer … Sterblichkeit bewusst wurden. Daher auch das Aufkommen komplexer Bestattungsrituale in dieser Zeit. Und eine Begleiterscheinung dieses Phänomens ist, dass uns Menschen erst damals so richtig klar wurde, was es eigentlich bedeutet, ein Mitgeschöpf umzubringen – und dieses Bewusstwerden der Endgültigkeit des Todes ging einher mit Schuldgefühlen. Schuldgefühlen darüber, dass wir so sind … wie wir sind.«
    Jake blickte wieder auf sein Handy. Nichts. Er starrte auf den brodelnden Bangkoker Verkehr. Die rosafarbenen und gelben Toyotas reflektierten die Straßenbeleuchtung und warfen einen schwachen Lichtschein auf Julias bewegtes Gesicht.
    »Der Reiz dieser Hypothese«, fuhr sie fort, »einer Hypothese, die übrigens meiner Meinung nach Ghislain Quoinelles als Erster aufgestellt hat, besteht darin, dass sie viele rätselhafte Aspekte der großartigen paläolithischen Höhlenkunst Frankreichs und Spaniens schlüssig zu erklären vermag. Wobei diese Kunst selbst der stärkste Beweis ist, den wir für diesen gewaltigen Sprung haben, der in Wissenschaftskreisen auch als paläolithische Revolution bezeichnet wird.«
    »Was für rätselhafte Aspekte?«
    »Die intensive Beschäftigung mit Tieren, die fast obsessive Züge trägt. In den großen Höhlen findet man massenhaft Zeichnungen und Ritzungen und sogar Skulpturen von Tieren: galoppierenden Tieren, Herden bildenden Tieren, angreifenden Tieren, kopulierenden Tieren. Mit Speeren erlegten Tieren. Verschiedene Wissenschaftler haben diese extreme Fixierung auf Tierdarstellungen als Teil eines Rituals zu deuten versucht, das sich positiv auf die Jagd auswirken, gewissermaßen auf magische Weise den Jagderfolg erhöhen sollte. Aber warum wurden dann so viele Tiere – zum Beispiel Pferde oder Löwen – abgebildet, die kaum gejagt wurden? Oder warum wurden dann nicht nur Jagden abgebildet? Einige Forscher haben die Vermutung geäußert, bei diesen Kunstwerken handle es sich lediglich um harmlose Kritzeleien. Aber warum sind diese Malereien dann oft so schön, und warum sind sie immer so unzugänglich und gut geschützt in den hintersten Winkeln der Höhlen versteckt?«
    An dieser Stelle schaltete sich Barnier in die Diskussion ein. »Diese Theorie müsste doch gerade einen Künstler wie Sie ansprechen, Jake. Julia ist der Ansicht, dass die Höhlenkünstler in gewisser Weise an den

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