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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Meinung, die Hände müssten von einem Stamm mit irgendeiner genetisch bedingten Missbildung stammen. Allerdings gibt es keine Skelettfunde, die dies belegen würden, und auch hier stellt sich wieder die Frage: Warum solche peinlichen Entstellungen nachzeichnen und festhalten? Die jüngste Theorie besagt, dass diese Finger nicht verstümmelt oder abgetrennt sind, sondern lediglich umgebogen wurden, bevor man die Hände mit einem Stift nachzeichnete, und dass es sich dabei um die Darstellung von Codes für die Jagd handelt, wie sie bei manchen primitiven Stammesgesellschaften zum Teil heute noch gebräuchlich sind: Ein eingezogener Finger steht für Antilope, zwei für Auerochse.«
    Jetzt übernahm wieder Barnier, wie bei einem gut eingespielten Team.
    »Eine besonders absurde Theorie, vor allem wenn man einmal die Hände von Gargas gesehen hat. Diese Hände haben etwas zutiefst Berührendes. Es sind die Hände von Männern und Frauen und Kindern. Das sind nicht ein paar Jäger, die sich irgendwelche Fingerzeichen geben.«
    »Und was …« Jake sah erst Barnier, dann Julia an. »Was hat Gargas dann Ihrer Meinung nach zu bedeuten?«
    »Diese seltsam stummen Handdarstellungen zeugen von tiefen Schuldgefühlen und der Suche nach Erlösung. Die Abbildungen wollen sagen: Diese menschlichen Hände haben gesündigt. Diese Hände haben getötet. Vergebt uns. Es ist keineswegs abwegig, anzunehmen, dass die Finger in einem schamanistischen Ritual anfänglich absichtlich verstümmelt wurden, sozusagen zur Buße. Für diese Theorie gibt es überzeugende Beweise. Einige Stämme, wie zum Beispiel die Tui-Tonga oder die Tahitianer, haben sich in einer Art menschlichem Selbstopfer auch noch in jüngster Vergangenheit Fingerglieder oder ganze Finger abgeschnitten, wenn ihr Stamm wegen einer Verfehlung Buße leisten musste, um eine Gottheit zu besänftigen, oder den Tod eines Stammesoberhaupts betrauerte.«
    Eine Pause. Jake hörte aufmerksam zu.
    »Nachdem die Finger, wie in Gargas, ursprünglich tatsächlich amputiert worden waren«, fuhr Julia schließlich fort, »wurden sie im Lauf der Zeit beim rituellen Nachzeichnen der Hände wahrscheinlich lediglich umgebogen, und die abgetrennten Finger hatten nur noch symbolischen Charakter. Aber dennoch kamen die Höhlenbewohner in die Höhle, um ihre Hände in einem rituellen Akt nachzuzeichnen, und zwar die Hände, mit denen sie die edlen Tiere getötet hatten. Dahinter stand also die Intention, Reue zu zeigen, um Vergebung zu bitten und um die getöteten mitgeschöpfe zu trauern.«
    Jake nahm einen Schluck von seinem Singha-Bier.
    »Hm. Langsam dämmert es mir … glaube ich jedenfalls. Aber die Schädel, die Schädel und die Knochen, was haben sie damit zu tun?«
    Barnier beugte sich vor. »Überlegen Sie doch mal, Jake. In Julias großartiger Theorie haben wir plötzlich die ganze Tragödie der conditio humana in wunderbar komprimierter Form dargestellt. Wir Menschen scheinen insofern einzigartig zu sein, als wir als einzige Spezies Scham über unser Menschsein empfinden und uns für die Sünde, wir selbst zu sein, schuldig fühlen. Und trotzdem …« Er lächelte. »Trotzdem lässt sich das alles mit ein paar Messerschnitten aus der Welt schaffen.«

34
    W as?«, fragte Jake.
    Mit erstaunlicher Geschicklichkeit holte Barnier eine weitere Zigarette heraus, zündete sie an, inhalierte und atmete aus.
    »Das werde ich Ihnen gleich erklären. Aber zunächst mal müssen alle Daten und Informationen auf den Tisch. Erzählen Sie uns erst Ihre Geschichte. Erzählen Sie uns, was Sie herausgefunden haben.«
    Jake war immer noch nicht ganz bei der Sache. Aber er hatte die Nase voll davon, nur schweigend dazusitzen. Um sich abzulenken, schilderte er Julia und Barnier deshalb das Ganze aus seiner Sicht. Er erzählte ihnen alles über seine Begegnung mit Chemda, über ihre gemeinsame Flucht nach Bangkok, über den tollwütigen Hausmeister, Pol Pots Grab und sogar die krasue . Dabei saß er schwitzend und hektisch zappelnd auf seinem Stuhl und schaute abwechselnd auf sein Handy oder die Soi hinauf und hinunter, auf den Durianverkäufer und die Mangofrau und die schnatternden schmollmündigen Ladyboys, die Kathoeys, die transsexuellen Stricher mit ihren ausgeprägten Wangenknochen und dem dick aufgetragenen Lippenstift, ihrer komischen Größe und ihren Superfrisuren. Sie waren wie Raubkopien von Frauen, wie gefälschte Chanel-Handtaschen. Phantastische Nachbildungen, aber eben nicht echt.
    Als Jake

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