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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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unmenschlichen Experimenten am Gehirn lebender Versuchspersonen begonnen haben.«
    »Aber diese Experimente gingen schief«, warf Jake ein. »Sie haben Zombies aus diesen Leuten gemacht. Wie im Fall von Chemdas Großmutter.«
    »So scheint es jedenfalls.« Barnier nickte. »Rückblickend betrachtet ist auch klar, warum. Falls es im Gehirn tatsächlich so etwas wie ein Schuldbewusstseinsmodul gibt, muss es aufs engste mit dem Stirnlappenkortex und dem limbischen System und dem Hippocampus verknüpft sein. Mit etwas Glück gelingt es einem vielleicht, den größten Teil davon zu entfernen; wenn man Pech hat, kommt hinterher ein sabberndes Lobotomieopfer heraus. Bei so einem Eingriff geht es nicht einfach nur darum, ein paar Kubikzentimeter Gewissen aus dem Kopf zu schnipseln. Ganz zu schweigen davon, dass ihre Operationstechniken, schätze ich mal, zum Heulen primitiv waren. Ich meine, was will man im Kambodscha der siebziger Jahre groß erwarten. Deshalb wurden aus diesen armen Teufeln Alkoholiker, Sexualverbrecher und Psychotiker gemacht. Nicht dass die Kommunisten das groß gejuckt hätte. Das waren ihre ersten Gehversuche auf diesem Gebiet, die ersten Experimente in dieser Richtung. Da darf man nicht kleinlich sein, man muss das große Ganze im Auge behalten, non ?« Er grinste, runzelte die Stirn und betrachtete eine muslimische Frau mit einem schwarzen Schleier und einer metallenen Maske vor dem Gesicht, wie ein normannischer Ritter. Anscheinend grenzte das muslimische Viertel von Bangkok direkt an die Bordelle und die Kathoeys.
    Barnier fuhr fort: »Ich vermute mal, dass sie versehentlich zu tief in das inhibitorische System oder in die Dopamin-Belohnungs-systeme oder was weiß ich alles geschnitten haben. Jedenfalls kamen dabei nur Behinderte oder hilflose Monster heraus. Wie dieser Kerl, der Chemda zu vergewaltigen versucht hat – wie hieß er gleich noch mal?«
    »Ponlok. Er hieß Ponlok.«
    »Das erklärt diesen ganzen Wahnsinn.« Julia schüttelte den Kopf. »Es erklärt auch, warum sich nicht wenige freiwillig für diese Experimente zur Verfügung gestellt haben.«
    »Mhm. Allerdings. Die hundertprozentigen Kommunisten haben sich freiwillig gemeldet. Sie wollten sich vervollkommnen lassen, wie die Katharer; sie wollten ihr bourgeoises Schuldbewusstsein gesäubert und geläutert bekommen, um perfekte Kommunisten zu werden.« Barnier blies eine Rauchwolke in die Luft. »Was für eine aberwitzige, eines Flaubert würdige Ironie, wenn man sich vor Augen hält, dass das alles ausgerechnet unter dem wahrscheinlich menschenverachtendsten Regime der Weltgeschichte passiert ist. Denn wenn irgendjemand Schuldgefühle haben sollte, dann die Roten Khmer.«
    Jake ließ sein Bier stehen und fragte den alten Franzosen: »Und wie hat es Sie hierher verschlagen? Was ist mit Ihnen in den siebziger Jahren passiert?«
    Barnier zog an seiner Zigarette. »Wie bereits gesagt: Zuerst haben sie uns nach China gebracht, und schon das war zutiefst desillusionierend, gespenstisch und verstörend. Dann sind wir nach Kampuchea weitergeflogen, und das war einfach … das war schlicht und einfach unvorstellbar. Wir landeten in Phnom Penh, und man konnte es riechen! Man konnte die Unterdrückung und die Angst riechen. Und dann diese Stille. Wie in einer toten Stadt, wie Venedig in einem Albtraum übelster Sorte. Keine Autos. Kein Gelächter. Niemand hat gesprochen. Nur geflüstert. Flüstern und Hitze und Verwesung. Und diese gespenstischen Straßen. Mein Gott, diese vollkommen menschenleeren Straßen.« Barnier stürzte seinen Whiskey hinunter.
    »Aber was genau ist damals passiert?«, fragte Jake. »Was haben Sie in Kambodscha gemacht?«
    »Das Gleiche wie in China. Nichts. Ich wurde nicht zu den wissenschaftlichen Gesprächen hinzugezogen, denn inzwischen war längst klar geworden, dass unsere Gastgeber vor allem an Leuten wie Ghislain interessiert waren, an Neurologen, Historikern und Psychiatern. Während also diese Leute in Jeeps irgendwohin gebracht wurden, saß ich den ganzen Tag in meinem scheußlichen Hotel herum, starrte auf den Tonle Sap und dachte an den Tod. Und irgendwann hatte ich einfach die Schnauze voll. Ich sagte mir: Jetzt reicht’s. Ich schlich aus dem Hotel und entwischte meinem Rote-Khmer-Aufpasser. In einer dieser verlassenen Straßen fand ich ein Fahrrad, und damit fuhr ich dann aufs Land hinaus.« Er schüttelte den Kopf. »Und dort habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Draußen auf dem Land. Unbeschreiblich.

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