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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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Ich habe die Wahrheit gesehen, Jake. Ich habe die beschissene Realität ihrer perfekten marxistischen Revolution gesehen. Alle trugen schwarze Einheitskleidung und bauten in der glühenden Sonne diese bescheuerten Bewässerungskanäle. Sie transportierten den Schlamm in Körben, barfüßig. Stapften im Dreck herum. Wie wandelnde Skelette. Ich habe Menschen Pflüge ziehen sehen. Menschen. Keine Tiere, Menschen.« Er blickte fassungslos ins Leere. »Sie waren nicht einmal wie Roboter, sie waren wie Tiere, wie Lasttiere. Stumme Sklaven. Niemand redete. Ich fuhr mit dem Rad herum und sperrte Augen und ohren auf, aber ich hörte nichts. Nichts als im Dreck schuftende Menschen. Und das war der Punkt, an dem mir klar wurde: Dieses Land war ein Gefängnis, ein einziges riesiges Gefängnis. Ein ganzes Land, das in ein Konzentrationslager umgewandelt worden war, eine ganze Nation, die Zwangsarbeit verrichtete.« Er hustete wutentbrannt Rauch. »Das hat mir den Rest gegeben. Ich fuhr nach Phnom Penh zurück, und ich habe die ganze Fahrt über am ganzen Körper gezittert. Fast hätte ich auf die Straße gekotzt. Und dann fing ich an, Fragen zu stellen, und ich geriet an ein paar Leute, von denen ich Antworten erhielt, und sie erzählten mir von den Morden, von den vielen Morden. Man konnte aus den absurdesten Gründen ermordet werden, zum Beispiel weil man eine Brille trug, weil man seine eigenen Kartoffeln anbaute, weil man eine Fremdsprache sprach, weil man seine Kinder zu sehr liebte, weil man schrieb, weil man redete, weil man tanzte, weil man lachte – ohne Übertreibung, in Kambodscha konnte man unter den Roten Khmer getötet werden, weil man gelacht hatte; man konnte mit dem Kopf gegen einen Baum geschmettert werden, weil man glücklich war, weil Lachen und Glück kapitalistisch waren. Und daraufhin bin ich ausgestiegen. Sie haben mich auch gehen lassen und mir lediglich eingeschärft, auf keinen Fall über die Konferenzen zu sprechen, was ich auch nicht getan habe. Andere von uns wurden wesentlich stärker gegängelt. Sie mussten sich verpflichten, ihre beruflichen Karrieren nicht mehr weiterzuverfolgen. Alles nur, damit niemand darauf käme, was die Kommunisten vorhatten. Alle mussten die Entdeckungen, die sie gemacht hatten, für sich behalten und ihre Karrieren opfern: alles für das große Ziel – für die marxistische Revolution.«
    »Deshalb also hat sich Ghislain in Lozère verkrochen«, bemerkte Julia. »Deshalb hat er so komisch reagiert, als ich die Schädel entdeckt habe.«
    Barnier nickte mit Nachdruck. »In späteren Jahren muss er, wie Ihre Freundin Annika es ausgedrückt hat, innerlich sehr zerrissen gewesen sein. Stellen Sie sich das mal vor: ein hochbegabter junger Wissenschaftler mit einer vielversprechenden neuen Theorie, die auf den Schädeln und Knochen von Lozère, den Höhlenmalereien und Prunières Arbeiten basiert; und dann bekommt er gesagt, das alles zu vergessen, dem nicht mehr weiter nachzugehen, seine wissenschaftlichen Arbeiten zu vernichten, auf seine Karriere zu verzichten. Und eines Tages kommen Sie daher und entdecken ein paar weitere Schädel, und er wird wieder schmerzlich an all das erinnert, an sein vergeudetes Leben und seine verleugneten Theorien.«
    »Und das hat er getan und striktes Schweigen bewahrt«, fragte Jake, »nur weil es die Kambodschaner von ihm verlangt haben?«
    »Nein, nein.« Barnier schüttelte den Kopf. »Nicht die Kambodschaner. Es waren natürlich die Chinesen. Die Oberaufsicht über das ganze Projekt lag bei den Chinesen. Das war mir eigentlich von Anfang an klar. Diese Experimente waren eine rein chinesische Angelegenheit. Sie hatten das Geld und die Ambitionen und die Idee dazu; die kleinen Kambodschaner – ihre durchgeknallten maoistischen Wasserträger, das verrückteste Regime der Welt –, sie durften gerade mal als Versuchskaninchen für sie herhalten. Die Chinesen haben das Ganze lediglich an die Roten Khmer vergeben. Ein typischer Fall von Outsourcing oder Franchising, wie man das heute so schön nennt.«
    »Warum?«, fragte Jake.
    »Das war sechsundsiebzig. China befand sich gerade im Umbruch. Mao lag im Sterben. Die extremen Maoisten brauchten einen Ort, an dem sie ungestört arbeiten konnten, und da kam ihnen Kambodscha als Todeslabor gerade recht, als ihre beknackte sozialistische Spielwiese.«
    Ein beinloser Bettler schleppte sich an einem Tony-Roma’s-Pizza-outlet vorbei.
    »Und was haben Sie dann gemacht?«, fragte Jake. »Warum leben Sie

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