Bibel der Toten
eingestellt«, fuhr Barnier fort. »Aber eines hatte Fishwick vorher noch durchblicken lassen. Ich hatte ihn gefragt, was er zurzeit mache, woraufhin er mir gestand, dass die Chinesen erneut auf ihn zugekommen waren. Er hatte sich – mit sehr viel Geld – ein zweites Mal nach China locken lassen, um dort etwas zu entwickeln. Was genau, das hat er zwar nur angedeutet, aber es muss im Grunde das Gleiche gewesen sein wie das, was er schon vor dreißig Jahren gemacht hat. Zu dem Zeitpunkt, als er mir das geschrieben hat, konnte ich mir allerdings noch nicht so recht vorstellen, was das sein könnte. Doch nach allem, was Sie mir inzwischen erzählt haben, habe ich diesbezüglich keinerlei Zweifel mehr.
Fishwick also schrieb mir, er würde weiterhin an einem Forschungsinstitut in Yunnan arbeiten, an einem sehr abgelegenen, extrem schwer zugänglichen Ort. In Balagezong in der Nähe von Zhongdian. Das liegt in den Ausläufern des Himalaya. Nicht weit von der Grenze zu Tibet.«
Jake schaute über den schmutzigen Tisch.
»Soll das heißen, er forscht … immer noch in dieser Richtung?«
»Ja.« Aus Barniers Nasenlöchern strömte Rauch. »Während wir hier sitzen und reden, betreibt er in dieser entlegenen Ecke Chinas, in Balagezong, seine Forschungen. Wie es scheint, gehen sie nach wie vor mit dem Skalpell zu Werke und schnippeln Schuldbewusstsein und Gewissen aus dem menschlichen Gehirn. Sie führen diese Operationen weiterhin durch – mit dem einzigen Unterschied, dass sie inzwischen …« Er hielt inne und blickte sich nervös um, bevor er fortfuhr: »… dass sie, laut Fishwick, inzwischen wissen, wie es geht. Und dass …«
Er verstummte abrupt. Sein Gesicht war zu einer schweißüberströmten maske erstarrt.
35
D er Franzose war aufgesprungen.
» Ich habe Chemda gesehen! Dort drüben. Vor der Kathoey-Bar.« Er hielt kurz inne. »Außer …!«
Jake war bereits auf den Füßen, schob dicke Westler und ihre zierlichen Freundinnen beiseite und rannte die belebte Sukhumvit hinunter; doch plötzlich spürte er, wie ihn jemand von hinten mit erstaunlicher Kraft festhielt.
Barniers Whiskeyfahne streifte heiß über sein Gesicht.
»Überlegen Sie doch … das kann nicht Ihre Freundin sein … es muss die Killerin sein … wieso sollte sich Chemda hier herumtreiben? Jake?«
Barniers Argumente waren so einleuchtend wie ernüchternd. Aber das war Jake egal; er musste das Risiko eingehen. Vielleicht war es doch Chemda. Er riss sich aus Barniers Griff los.
»Ich sehe trotzdem nach. Wo war sie genau?«
Der alte Franzose schnaubte vor Ärger.
»Sie Idiot. Da. Dort. Sie haben sie doch nicht alle. Dort war sie. Ich gehe jetzt jedenfalls in meine Wohnung und schließe mich dort ein … packe meine Sachen … und verschwinde.«
Damit drehte sich Barnier um und tauchte in die Menge ein, ein weiterer alter Westler unter all den asiatischen Mädchen und Er-Sies. Statt des Franzosen war auf einmal Julia an Jakes Seite.
»Ich helfe Ihnen.«
Sie liefen los, aber es wurde rasch klar, dass ihre Suche vergeblich war. Sie hasteten Soi zwei und Soi vier hinauf und hinunter, vorbei am Beer Garden und dem Foodland Supermarket; sie drückten sich an Strichmädchen und Saudi-Ehefrauen und blinden Karaoke-Sängern vorbei, die ihre grässlichen Lieder schmetterten.
Nichts.
»Vielleicht«, stieß Julia atemlos hervor, »vielleicht hat sich Barnier alles nur eingebildet. Sehr wahrscheinlich sogar. Er hat ziemlich viel getrunken.«
»Er leidet unter Wahnvorstellungen.« Jetzt brach die Enttäuschung ungebremst aus Jake hervor. »Dieser besoffene blöde Sack. Ach, Scheiße … scheiß drauf.« Er verrieb mit müden Händen Erschöpfung und Verzweiflung in seinem Gesicht. »Kommen Sie. Ich glaube nicht, dass er wirklich was gesehen hat. Gehen wir in mein Hotel. Vielleicht hat Chemda dort eine nachricht hinterlassen.«
Er wusste natürlich, dass das absurd optimistisch war; eigentlich hatte er jede Hoffnung aufgegeben.
Sie gingen wortlos die nächtlich belebte Soi Nana hinunter.
»Das in der Bar vorhin tut mir furchtbar leid, Jake«, brach Julia schließlich das Schweigen. »Was ich da über Chemda gesagt habe.«
»Irgendwie kann ich Ihre Reaktion ja sogar verstehen«, beschwichtigte Jake sie. »Aber ich bin ganz sicher, dass Chemda unmöglich die Killerin sein kann.«
Sie hatten die Kreuzung mit der Soi sechs erreicht. Eine Prostituierte in einem Minirock verneigte sich vor einem kleinen Schrein, einem Geisterhaus, das vor der
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