Bibel der Toten
jetzt in Bangkok? Warum waren Sie in Abchasien? Warum sind Sie durch die halbe Welt gereist, um die Rätsel der Vergangenheit zu entschlüsseln?«
Barnier ließ Rauch durch die Nase entweichen. Sein Gesicht war fahl, und die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer. Er schien sich vor sich selbst zu ekeln.
»Weil ich seitdem die brennende Schuld mit mir herumtrage, dass ich bis zu einem gewissen Grad auch selbst an diesen Gräueln beteiligt war. Ich kann mich noch gut erinnern, wie neunundsiebzig die Herrschaft der Roten Khmer zu Ende ging. Ich habe die damaligen Geschehnisse zu Hause in Lyon im Fernsehen mitverfolgt und meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt gesehen. Dieses dämliche Scheißland hatte sich praktisch selbst aufgefressen, der totale Wahnsinn, zwei Millionen Tote. Ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Die Nation, die sich selbst die Beine abschnitt, sich selbst die Augen ausstach. Und das war der Punkt, an dem ich allem abgeschworen habe, an dem ich wiedergeboren wurde – als Kapitalist. Als simpler – und auch noch überzeugter – Kapitalist.« Er sah Jake herausfordernd an. »Zuerst bin ich nach Hongkong gezogen, dann nach L. A. und Singapur, und ich habe mir mein schuldbeladenes Hirn zunutze gemacht und bin Daytrader, Finanzmakler, geworden. Ich wollte so unkommunistisch wie möglich sein, und es hat tatsächlich geholfen. Ich habe einen Haufen Geld gemacht und ordentlich rumgehurt, und wissen Sie was? Wenn ich jetzt sterben muss, meinetwegen, scheiß drauf, sollen sie mich eben umbringen, denn ich habe gesündigt. Aber wenigstens bin ich kein blöder Scheißkommunist, jedenfalls nicht mehr.«
Barnier griff zu seinem Glas. »Und in den letzten zwei Jahren habe ich mein Geld dafür verwendet, herauszufinden, was damals in China und Kambodscha wirklich passiert ist. Ich bin nach Angkor gefahren, weil ich weiß, dass sich die Roten Khmer sehr für Angkor interessiert haben. Auch in Sochumi war ich. Aber das hat mich alles nicht wirklich weitergebracht, bis Sie aufgetaucht sind, bis mir die bezaubernde Miss Kerrigan ihre Hypothese vorgestellt hat und Sie mir von Ihren Erlebnissen erzählt haben. Ich glaube, ich bin Ihnen zu tiefem Dank verpflichtet. Sie haben mir vor Augen geführt, wie viel Unheil ich in meinem Leben angerichtet habe.« Er lachte. Bitter.
Ein Tuk-Tuk-Fahrer rauschte, Dosenbier trinkend, an ihnen vorbei. Jake schaute reflexartig auf sein Handy. Aber Chemda hatte sich nicht gemeldet.
Jake beugte sich vor und schenkte sich ein Glas Mekong-Whiskey ein. Er schmeckte scharf und kratzig, aber das brauchte er jetzt. Er stürzte ihn hinunter und schenkte sich nach. Die Moskitos stachen, Frauen in Burkas watschelten an den Huren in ihren Hotpants vorbei.
»Ich hätte noch eine letzte Frage, Marcel«, sagte Julia.
»Mhm?«
»Sie haben zum Leiter des abchasischen Forschungsinstituts in Sochumi gesagt, dass die Chinesen wesentlich weiter gegangen sind.
« Der alte Franzose schaute in einem Tagtraum aus halbverhohlener Angst nervös die belebte Straße hinunter. Dann riss er sich zusammen und wandte sich Julia zu.
»Aii. Ja. Ja. Das stimmt. Habe ich gesagt.«
Die Amerikanerin beugte sich vor und sah ihn forschend an. »Woher wissen Sie das? Woher wissen Sie, dass sie weiter in dieser Richtung geforscht haben?«
Barnier balancierte die vielleicht sechzigste Zigarette des Abends unangezündet zwischen seinen Fingern. Dann schnippte er ein Zippo-Feuerzeug an und hielt die Flamme an den Tabak. Er blies eine Marabufeder aus Rauch in die Luft und sagte: »Vor etwa einem Jahr bekam ich von meinem Kollegen Colin Fishwick vollkommen unerwartet eine E-Mail. Von meinem alten Kampfgefährten aus dem Demokratischen Kampuchea. Fishwick!«
»Der Neurologe!«, sagte Julia aufgeregt. »Der andere Reiseteilnehmer auf dem Foto, der noch lebt.«
»Ja, der Einzige, der außer mir noch am Leben ist. Wir mailten uns wegen der Morde. Wie alle … um die Ecke gebracht wurden. Einer nach dem anderen. Er wollte wissen, wie ich die Sache einschätzte, für wie gefährlich ich das Ganze hielt. Ich schrieb ihm, dass ich mächtig Schiss hätte und dass ich die Sache weiterverfolgen würde und dass ich vorhätte, unterzutauchen, wenn es mir zu brenzlig würde. Fishwick meinte, der Mörder hätte es wahrscheinlich auch auf ihn abgesehen, aber er glaubte, so gut versteckt zu sein, dass er nichts zu befürchten hätte. Vorerst zumindest.«
»Okay.«
»Wenig später haben wir unsere E-Mail-Korrespondenz
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