Bibel der Toten
Englisch.
»Sie ihn töten. Ihre Freundin. Ihn töten!«
Die Polizisten hörten nicht auf sein Geschrei; wahrscheinlich verstanden sie kein Englisch. Sie bekamen nicht mit, dass der Türsteher Chemda des Mordes an Barnier beschuldigte. Aber schon bald würde der Türsteher auf Thai mit ihnen sprechen. Und ihnen alles erklären. Und die Polizisten würden schnell schalten.
Jake tauchte wieder in die Anonymität der Menge ein und ergriff Julias Hand. Unauffällig zogen sie sich zurück, um jedoch schon nach kurzem, nicht mehr ganz so unauffällig, loszulaufen. Jake wollte nur noch weg. Weg von dem vielen Blut, weg von dem brutalen Gemetzel. Sie rannten die Soi sechs hinunter, am Heidelberg German Pub vorbei, vor dem die Nutten und die Zwerge ausgelassen gackernd auf ihren Barhockern saßen und Reisnudeln mampften und riefen: Meester, meester. Willkommen, willkommen.
36
S chuld.«
»Warum machst du dir solche Vorwürfe?« Jake sah Julia an und schüttelte den Kopf. »Du konntest doch nicht wissen, dass …«
»Wenn ich Chemda nicht fälschlich beschuldigt hätte, wäre sie nicht aus der Bar gerannt – und nicht entführt worden.« Julia rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. »Ich habe noch zweitausend Dollar und weiß im Moment sowieso nicht, wo ich hin soll. Ich habe dir das alles eingebrockt. Lass mich doch mitkommen und dir helfen … sie retten.«
Jake seufzte. »Willst du nicht wenigstens endlich mal diesen Typen anrufen? Diesen französischen Polizisten.«
»Rouvier.«
»Ja.«
»Wie stellst du dir das vor?« Ihre Augen waren strahlend und traurig – und aufrichtig. »Dann müsste ich ihm alles erzählen. Und er würde sich sofort mit der thailändischen Polizei in Verbindung setzen. Und dich nähme man auf der Stelle fest, weil dich der Türsteher am Tatort belastet hat.«
Das leuchtete Jake ein. Er drehte sich zur Seite.
»Sobald wir sicher in China sind, rufe ich Rouvier an«, fuhr Julia fort. »Irgendwann.«
»Sicher?« Fast hätte Jake gelacht.
Die Thai-Airways-Maschine setzte zum Landeanflug auf Kunming an. Die Stadt des Immerwährenden Frühlings. Die Hauptstadt Yunnans. Eintönige Wohnblocks entlang eines Sees; Rauchfahnen speiende Schlote, die die Zukunft verpesteten.
»Sie muss irgendwie verwandt mit ihr sein«, murmelte Julia nachdenklich. »Ich verstehe nur nicht, wie sie sich so ähnlich und zugleich so unterschiedlich sein können, manchmal ein mann, manchmal eine Frau. Ein eineiiger Zwilling müsste ein Mädchen sein.«
»Chemda«, murmelte Jake. An etwas anderes konnte er nicht denken. Seine große Liebe. Chemda .
Und welch eine Ironie.
Sein ganzes Leben lang hatte er die Gefahr und das Abenteuer gesucht, und jetzt hatte er es, aber ganz anders als erwartet. Er hatte die Gefahren und Abenteuer der Liebe entdeckt. Wenn man sich in einen anderen Menschen verliebt, bringt man seine Seele und sein Glück in Gefahr. Das war ihm inzwischen klar geworden. Er würde ein Berichterstatter des Herzens, wenn er dieses Risiko einging, wenn er dieses – ja, was eigentlich? – zu fassen zu bekommen versuchte. Dieses gewisse Etwas. Diesen ganz speziellen Moment.
Jake wandte sich Julia zu. Er beobachtete, wie sie die Hände behutsam auf ihren Bauch legte. In einer beschützenden Geste, wie eine ätherisch vergeistigte Renaissancemadonna. Scheu, aber auf eine subtile Weise willensstark. Unbeirrbar, aber voller Anmut. Er setzte zu einem weiteren Versuch an.
»Julia, du weißt doch, dass auch die Killerin nach Balagezong kommen wird. Um nach Fishwick zu suchen.«
»Ja, das weiß ich.«
»Willst du von Kunming nicht doch lieber zurück nach Hause fliegen?«
»Nein.«
Das Flugzeug kam auf dem Flughafen von Kunming zum Stehen. Vor der riesigen Ankunftshalle hingen rotgelbe chinesische Fahnen im milden Sonnenlicht. Überall prangten chinesische Schriftzeichen ohne englische Übersetzungen.
»Wir sollten uns lieber beeilen. Unser Anschlussflug geht in wenigen Minuten …«
Schwitzend schafften sie es sechs Minuten vor dem Abflug gerade noch rechtzeitig an Bord. Es war eine Dragonair-Propellermaschine, eine klapprige alte Kiste. Die Passagiere waren vorwiegend Hochlandbewohner mit wettergegerbten Gesichtern, ausgelassen lachend und ziemlich betrunken. Viele trugen Fellmützen; das waren Tibeter, Bergbewohner, Geschäftsmänner, die mit Holz, Yakfleisch und Raupenpilzen aus dem Himalaya handelten.
Ihr Ziel war Zhongdian, hoch oben in den Bergen. Jake blickte auf eine unwegsame zerklüftete
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