Bibel der Toten
hier wiederzufinden, die Mutter, die er hasste, liebte, hasste, und die Schwester, so fragil und ätherisch, zwei schwebende Frauenköpfe ohne Körper, geflügelte Kinnaris, Fabelwesen im Sandstein Angkors.
Das Blut blubberte und gurgelte, tröpfelte unaufhörlich weiter in die Flaschen – wie in den Straßen Phnom Penhs geklautes Benzin.
Die krasue saugte gierig. Sie war in ihm. Die Dämonin. Sog ihm das letzte Blut aus den Adern. Saugte mit ihren sieben schwarzen Zungen an ihm wie Chemda damals im Bett.
Er röchelte. Würgte. Schauderte. Es war nicht mehr viel Blut in seinem Körper. Er war drinnen. Er war draußen. Er war inzwischen blind, konnte nichts mehr sehen, hatte das Sehvermögen verloren. Aber hören konnte er noch. Stimmen. Halluzinierte er? Eine davon gehörte Tyrone.
Tyrone? Er merkte, dass er jetzt vollends phantasierte.
Er verlor das Bewusstsein.
40
S ie starrte auf das Blut, das ihre Beine hinablief, sich zu einer zähflüssigen, rotvioletten Pfütze Traurigkeit sammelte. Dann spürte sie, wie kräftige Arme sie von hinten packten und hochzogen. Es war die Killerin, Chemdas Doppelgängerin, die ihr half.
Ihr half?
Zwei Mönche kamen angelaufen und stützten Julia, während sie die letzten steilen Stufen des Klosters zur Straße hinunterging. Julias Gesichtsfeld war stark eingeschränkt und verschwommen, so als schaute sie durch eine verschmierte Glasscheibe. Ein Auto wartete, ein absolut unpassendes neues Auto; Julia wurde behutsam auf den Rücksitz gehoben. Die Killerin setzte sich ans Steuer.
Das Auto fuhr auf der von Schlaglöchern übersäten Straße los. Julia musste sich beherrschen, um nicht vor Schmerzen und Verzweiflung aufzuschreien. Jemand hatte ihr einen großen weißen Stofffetzen gegeben, um das Blut aufzusaugen. Sie stopfte ihn sich zwischen die Beine, aber der Schmerz wallte weiter durch ihren ganzen Körper. Sie spähte angespannt aus dem Fenster, aber das tibetische Yunnan hatte nichts als unendliche Gleichgültigkeit übrig für ihre missliche Lage.
An den Sonnenseiten der Bauernhäuser lehnten Holzgestelle zum Trocknen der Gerste. Sie überholten tibetische Frauen, die singend und lachend Weidenkörbe voll Brennholz in ihre Behausungen schleppten. Und Julia blutete aus dem Unterleib und lag auf dem Rücksitz eines Autos, an dessen Steuer eine Killerin saß.
Wieder zurück im Haus. Sie war wieder im Haus der zahnlosen alten Frau mit ihren hübschen Enkeltöchtern und den im Stall unter den Schlafzimmern trocknenden Dunghaufen.
Die Frauen umsorgten sie lächelnd und stirnrunzelnd, wuschen sie mit heißem Wasser aus der Blechthermosflasche und über dem Kohlebecken erhitzten Kochtöpfen. Die Schweineköpfe schauten, überrascht mit den kurzen Wimpern blinzelnd, von der Decke herab. Die Frauen meinten es gut, waren aber schlecht ausgerüstet und versuchten, ihr mittels Zeichensprache zu verstehen zu geben, was sie längst wusste: dass sie eine Fehlgeburt gehabt hatte. Sie war schwanger gewesen. Seit der Abtreibung hatte sie geglaubt, sie wäre unfruchtbar, dass durch den Schwangerschaftsabbruch etwas in ihr zu Schaden gekommen wäre. Deshalb hatte sie nie verhütet. Weil sie es nicht musste. Aber sie war noch fruchtbar.
Und wieder war das Baby gestorben. Plötzlich ergab so manches einen schmerzlichen Sinn. Die Übelkeiten, das häufige Erbrechen, sogar die Reaktion des Affen in Abchasien – auf ihre »ungewöhnlichen Pheromone«.
Schwanger. Schwanger von Alex. Aber jetzt nicht mehr schwanger und wahrscheinlich auch nie wieder schwanger. Fast hätte sie ihren Eltern den größten Wunsch erfüllt; aber jetzt hatte sie sie wieder enttäuscht. Geisterkinder, Rauchkinder. Alles, was sie zustande brachte, waren Geisterkinder.
»Dzo …«
Die Frauen sprachen tibetisch. Sie wuschen Julia und zogen sie an, und dann setzten sie sie auf der langen Holzbank wie eine gro-ße zerbrechliche Puppe vorsichtig auf, damit sie aus dem Fenster schauen konnte. Doch Julia schaute in die andere Richtung: zum anderen Ende des Zimmers. Wo die Killerin lauerte. Die ganze Zeit hatte sie dort zwischen den Thangkas und dem Bild des Dalai Lama im Dunkeln verborgen gewartet.
Inzwischen war Julia alles egal. Wenn ihr die Killerin etwas Böses wollte, hätte sie ihr nicht geholfen. Julia hatte das starke Bedürfnis, mit dieser seltsamen, schweigsamen jungen Frau zu reden. Mit dieser brutalen Killerin.
»Wer sind Sie?«
Ein schwacher Luftzug kräuselte die seidenen Thangkas.
»Soriya«, sagte
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