Bibel der Toten
die Mörderin und kam auf Julia zu. Ihr Akzent war eindeutig amerikanisch. »Wissen Sie, dass Sie eine Fehlgeburt hatten? Aber nichts Lebensbedrohliches. Die Schwangerschaft war noch nicht sehr weit fortgeschritten.«
»Warum haben Sie mir geholfen? Obwohl Sie mich vorher umbringen wollten?«
»Ich weiß, was Leid ist. Mit Leid kenne ich mich aus.«
Das machte Julia neugierig. Vielleicht würde ihr die Mörderin – Soriya – genauer erklären, was sie damit meinte. Und Julia sehnte sich so sehr nach einer Erklärung, nach der Wahrheit, nach etwas, das die Leere füllen konnte, die sich in ihr auftat, dieses grässliche Nichts. Tränen drängten nach draußen, aber sie hielt sie zurück.
»Okay.« Julia rutschte ein Stück zur Seite, um dieser Frau – dieser Frau? – Platz zu machen.
Soriya setzte sich neben sie. Sie war schlank. Jung, sportlich, durchtrainiert. Sie hatte Chemdas Schönheit – aber irgendetwas an ihr war anders. Dunkle, wütende Augen.
Die Sonne verschwand hinter dem gezackten Horizont. Von den Bergen blies ein eisiger sibirischer Wind herab; er erinnerte die Schwarzhalskraniche an den Winter, dem sie entflohen waren.
Die Khmer-Frau sah Julia in die Augen, und dann zog sie die Perücke mit den langen schwarzen Haaren von ihrem Kopf.
Darunter war sie vollkommen kahl. Auf ihrer Stirn war eine feine Narbe.
Julia stockte der Atem. »Sie haben Sie operiert?«
»Ja.« Und nach einer kurzen Pause fügte Soriya hinzu: »Zumindest kann ich es mir inzwischen nicht mehr anders erklären. Endlich beginne ich klarer zu sehen. Jemand hat mich im Stich gelassen. Chemdas Mutter, Madame Tek. Chemdas Mutter ist auch meine Mutter …«
»Sie sind ihre Schwester?«
»Fast … nur fast.«
Das Lächeln der jungen Khmer-Frau war von tiefem Leid überschattet.
»Als kleines Mädchen – ich wuchs in Amerika auf – war ich wild und ungebärdig, zutiefst unglücklich und selbstmordgefährdet. Ich kam ständig zu anderen Pflegefamilien. Aber niemand wollte mich wirklich haben. Denn ich war massiv gestört und sehr aggressiv. Ich habe mich nicht wohlgefühlt in meiner Haut. Ich habe herauszufinden versucht, wer meine richtigen Eltern waren, aber die Dokumente waren vernichtet worden. Ich war nichts weiter als eine dieser kambodschanischen Waisen, eine Hinterlassenschaft des Chaos, das nach dem Sturz der Roten Khmer im Land herrschte. Aber es war nicht nur allein darauf zurückzuführen. Warum fiel es mir so schwer, mich auch nur ansatzweise einzufügen? Und was hatte es mit dieser narbe auf meiner Stirn auf sich? Was stimmte nicht mit mir?«
»Wie …?«
»Ich bin Chemdas Zwillingsschwester. Und zugleich bin ich es nicht. Das kann ich jetzt nicht erklären. Und ich will es auch nicht. Ich war kräftig und intelligent und sportlich. Ich wurde eingezogen. Zu einer Spezialeinheit. Dann wurde ich aus der Armee entlassen. Aber es drängte mich weiter, zu töten. Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich bekam mich einfach nicht in den Griff.«
Das Licht im Innern des Hauses schwand rasch. Soriyas ebenso düstere wie fesselnde Geschichte entspann sich ohne Hast, und Julia vergaß darüber ihre Fehlgeburt.
»Ich kehrte nach Kambodscha zurück, um mir endlich Klarheit über meine Vergangenheit zu verschaffen. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass dort der Schlüssel für die Ursachen meiner Probleme zu finden wäre. Bei meinen Nachforschungen lernte ich zufällig einen gewissen Ponlok kennen. Er bettelte in der Nähe von Tuol Sleng.«
»Ponlok. Den Namen habe ich schon einmal gehört …«
»Ich sah, dass auch er eine Narbe auf der Stirn hatte. Wir hatten beide die gleiche Narbe. Er erzählte mir, was er wusste, von einem Gerücht, das er einmal gehört hatte. Dass die Roten Khmer an Babys Experimente durchgeführt hatten, und ganz speziell an einem Baby. Er meinte, ich sähe aus wie Chemda Tek. Er erzählte mir, es sei in Anlong Veng passiert. Deshalb fuhr ich dorthin. Ich machte den Arzt ausfindig, der den Schwindel inszeniert hatte. Madame Tek hatte Zwillinge bekommen. Aber die Ärzte machten der Mutter weis, das zweite mädchen sei bei der Geburt gestorben. Ich wurde meiner Mutter weggenommen.« Ganz kurz legte sich im Dämmerlicht ein milderer Ausdruck über Soriyas Augen. »Was Ihnen heute passiert ist, tut mir sehr leid.«
Julia wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
»Es ist nichts im Vergleich zu dem, was man … Ihnen angetan hat.«
Soriya zuckte mit den Achseln.
»Nein, wahrscheinlich
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