Bibel der Toten
Tempelhöfen hinauf, wo alte Männer die Gebetsmühlen drehten, dicke in der Sonne glänzende Messingzylinder, die quietschend auf ihren alten Achsen rotierten. An dem weißen Stupa flatterten Gebetsfahnen in Rot, verblichenem Gelb und verwaschenem Blau laut knatternd im kalten Wind.
Sie betrat eine der Tempelhallen von Songzanlin. Sie war alt und riesig, ganz aus Holz gebaut. Julia wurde zunehmend wütender auf sich – und ihre Dummheit. Hier gab es keine Elektrizität. Das Kloster war genauso alt und abgelegen und ohne Strom wie das weiter unten im Tal gelegene Dorf. Auf uralten Teppichen knieten Mönche, die Räucherstäbchen zwischen den Handflächen hielten und unter lotosbestreuten Buddhastatuen und vergoldeten Wandmalereien in heiligem Pali ihre Gebete murmelten. Das Dunkel war durchdrungen vom Geruch qualmender Butterlampen. Männer in rotbraunen Kutten und hohen gelben Hüten kamen und gingen.
Julia bekam von dem Rauch einen heftigen Hustenanfall und ging niedergeschlagen und entmutigt wieder ins Freie. Sie wusste nicht mehr weiter. Jake war vermutlich tot. Chemda operiert. Und es war alles ihre Schuld. Die Schuld war wie ein quälender Schmerz in ihren Stirnlappen, ihrer Brust und ihrem Bauch.
Und was jetzt?
Vor der größten Halle stand ein reich verziertes rotes und gelbes Holzpodest, das mit Sand gefüllt war – und im Sand steckten Hunderte zinnoberroter Räucherstäbchen. Der duftende Rauch stieg in zarten Schwaden in den dunstigen blauen Himmel.
Sie drehte sich um.
Ein Gesicht.
Ein Gesicht, das sie kannte.
Die Killerin! Und sie kam auf sie zu. Die junge Asiatin. Sie war es. Und sie hatte es auf sie abgesehen. Wie in Paris. Nur gab es diesmal kein Entkommen, keine Möglichkeit, sich zu verstecken.
In der klaren Bergluft konnte Julia die Frau wesentlich besser sehen. War es doch Chemda? Sie war es und zugleich war sie es nicht. Das Gesicht schien nicht mehr so weiß.
»Aber …«, stieß Julia hervor. »Aber …«
War es das? Würde sie jetzt sterben? Hier, im Songzanlin-Kloster?
»Julia Kerrigan?«
Ja, die Stimme hörte sich amerikanisch an. Sie war es eindeutig. Chemda und doch nicht Chemda. Beinahe identisch. Langes Haar, tiefgründige Augen; nur an ihrem Körperbau war irgendetwas anders. Die Asiatin war nur noch wenige Meter von Julia entfernt; sie näherte sich ihr über die Terrasse des Klosters. Woher wusste sie ihren Namen?
Julia wirbelte herum – und rannte los. Sie rannte weg, um Jake und Chemda wenigstens zu einem Hauch einer Chance zu verhelfen. Doch sie stolperte über eine der obersten Stufen der großen Prozessionstreppe des Klosters und fiel hin. Ein Mönch schrie auf, sie stürzte, die Sonne war hell, sie schlug mit dem Kopf gegen die Kante einer Stufe, und ein alles durchdringender Schmerz schoss ihren Rücken hinunter.
Aufstehen! Sie musste aufstehen. Aber sie konnte sich nicht bewegen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, irgendetwas war gebrochen. Die Asiatin kam die vielen Stufen herab auf sie zugeeilt, aber alles, was Julia sehen konnte, war das viele Blut.
Es sammelte sich zwischen ihren Beinen.
39
D er Tod war ganz nah. Jake konnte seine Anwesenheit in dem versifften Raum spüren: der Tod als Bürokrat mit seiner endlos langen Liste, auf der er Kästchen für Kästchen abhakte und die Namen aufrief, und die ganze Zeit nie auch nur den Anflug eines Lächelns in den unbewegten Augen hinter der zeitlosen Brille. Baby zerschmettert. Abgehakt. Schwester getötet. Abgehakt. Mutter tot. Abgehakt.
Er konnte das Blubbern und Gurgeln seines Bluts hören, wie es die Glasflaschen füllte.
Und doch hatte er, während er das Geräusch hörte, seine Mutter vor Augen. Seine tote Schwester und seine tote Mutter, die im See des Schlächters trieben, und ihn mit ihren weißen Armen zu sich hinabwinkten. Er konnte es kaum erwarten, ihnen endlich zu folgen, in das nichts; seine Asche mit ihrer Asche zu vermischen, seine nichtexistenz mit der ihren zu verschmelzen, das Lied anzustimmen, wieder als kleiner Junge in der Kirche zu stehen, noch geliebt, noch bemuttert und noch die Hand seiner Mutter haltend, während er in ehrfürchtigem Staunen zu den Kirchenfenstern hinaufblickte, zu den blauen Gewändern, zum Blau der heiligen Lucia, zum Blau der Gottesmutter Maria.
Die geliebte Mutter. Die gütige Mutter. Die ihn verlassen, ihn allein auf dieser Welt zurückgelassen hatte. Bis ihm nur noch ein Ausweg geblieben war: wegzulaufen, bis ans Ende der Welt zu fliehen – um sie dann
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