Bibel der Toten
bringen. Im Musée de l’Homme, in Paris. Ich wollte endlich die Wahrheit wissen. Unbedingt. Deshalb bin ich, nachdem ich den Pförtner umgebracht hatte, noch einmal in das Museum zurückgekehrt. Ich wollte mir diese Schachtel ansehen. Von Prunières de marvejols. Aber Sie müssen sie in der Zwischenzeit woandershin gebracht haben. Deshalb ging meine Suche nach der Wahrheit weiter. Und als ich Barnier schließlich in meine Gewalt gebracht hatte, schlug er mir ein Geschäft vor, damit ich ihn verschonte; er verriet mir, dass Sie und er alles herausgefunden hätten. Aber dann tauchte der Türsteher auf. Ich musste schnell handeln. Deshalb tötete ich Barnier. Mir blieb nichts anderes übrig. Aber es hieß auch, dass er mir nicht mehr erzählen konnte, was er und Sie herausgefunden haben. Deshalb sind jetzt nur noch Sie übrig. Nur Sie können mir sagen, was passiert ist. Bitte, erzählen Sie es mir. Warum hat man mir das damals angetan?«
Julia zögerte lange. Doch dann begann sie, Soriya ihre Theorie in aller Ausführlichkeit zu schildern. Draußen in der kalten Abendluft trottete eine träge Prozession von Yaks das Tal herab.
Als Julia zum Ende kam, nickte Soriya.
Aber sie sagte nichts, sondern blickte nur auf den schwermütigen türkisfarbenen Himmel hinaus. Es war Julia, die schließlich das Schweigen brach.
»Weshalb sind Sie wirklich hier, Soriya?«
»Das ist die einzige Straße, die nach Balagezong führt.«
»Aber woher wissen Sie das alles? Waren Sie früher schon einmal in dieser Gegend?«
»Ja.« Die Stimme der Killerin war ganz ruhig, aber ihre Augen glühten, als sie zu den ersten Sternen hinausblickte. »Ich arbeite schon seit Jahren nur auf dieses eine Ziel hin. Wegen meiner Kriegsverletzungen bekomme ich eine Invalidenrente. Sie hat mir ermöglicht, mein Vorhaben so gründlich zu planen und vorzubereiten.«
»Aber wie genau bereiten Sie sich vor? Und vor allem: Worauf bereiten Sie sich vor?«
Julia bekam keine Antwort.
»Wie bereiten Sie sich vor?«, wiederholte Julia. »Indem Sie lernen, auf welche Art man tötet?«
Ihre Frage war von schonungsloser Direktheit; Soriya zuckte nur mit den Achseln und sagte: »Das musste ich nicht lernen. Das hat man mir beim Militär beigebracht. Nein, ich habe mehrere Sprachen gelernt. Und dann habe ich mich, wie gesagt, darangemacht, diese ganzen alten … Kommunisten aufzuspüren. Natürlich habe ich mit der Zeit dazugelernt. Wie man einen Selbstmord vortäuscht. Ich habe auch gelernt, meine Opfer zu sedieren. Ich habe sie in meine Gewalt gebracht und ihnen dann etwas injiziert. Methohexital. Ganz vorsichtig. Intravenös. Das kann man jemandem nicht einfach in die Arschbacken spritzen.«
»Und hier?«
»Hier war ich schon mehrere Male. Zunächst nur in Zhongdian, aber dann auch in Balagezong. Getarnt. Um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Ja, und jetzt liegt die Entscheidung bei Ihnen.«
»Welche Entscheidung?«
»Morgen fahre ich nach Balagezong. Um das letzte Kapitel dieser Geschichte zum Abschluss zu bringen.«
Julia wollte etwas entgegnen, aber Soriya hob ihre kleine, kräftige, dunkelhäutige Hand.
»Ich breche morgen früh auf, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich auf diesem Weg zurückkommen werde. Es wird sein, als hätte es mich nie gegeben, und niemand wird mich jemals wieder zu Gesicht bekommen. Aber ich kann auf keinen Fall zulassen, dass Sie nach Zhongdian zurückfahren. Und dort die Polizei verständigen. Deshalb werden meine Freunde Sie solange hier festhalten.«
»Sie wollen mich einsperren?«
»Ja. Es wird Ihnen kein Leid geschehen. Aber Sie werden dieses Haus nicht verlassen. Sie werden eine Woche lang hierbleiben. Bis dahin habe ich mein Vorhaben zu Ende gebracht. Ein für alle mal. Egal, wie die Sache ausgeht.«
»Sie …«
»Sie haben die Wahl. Wenn Sie möchten, können Sie auch mit mir kommen. Vielleicht gelingt es Ihnen sogar, Ihre Freunde zu retten.«
»Aber wie?«, fragte Julia erstaunt. »Wie kann ich sie retten?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber weil Sie mir die Wahrheit gesagt haben, lasse ich Ihnen diese Wahl. Sie brauchen mir nicht zu vertrauen; schließlich bin ich eine Geistesgestörte und eine Mörderin.«
Der Wind trug den Geruch von Kiefern und Eis durch die glaslosen Fenster. Die Dunkelheit war von beißender Kälte durchsetzt.
41
E y, Mann.«
Der Sumpfnebel über dem Schlächtersee seines Bewusstseins löste sich langsam auf. Er war noch am Leben.
»Du machst vielleicht Sachen. Also
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