Bibel der Toten
ineinander. Träume von Alex, der an einem See mit angsteinflößenden Kranichschwärmen mit ihr schlief. Inzwischen zitterte sie unablässig. Einmal wachte sie schweißgebadet auf und sah die alte Frau blaue Pflaumen essen. Der Saft der Pflaumen lief über das runzlige Kinn der Frau. Wo war Jake? Wo war Tashi? Sie waren weg, für immer weg; alle waren weg, geräuchert, nur noch Gespenster. Ein geräucherter Schweinekopf stierte von der Decke auf sie herab.
Würde sie an dieser Sache sterben?
Fast war es ihr egal – bis es ihr nicht mehr egal war. In einem unangekündigten Moment, nach fünf, sechs, vielleicht auch sieben Tagen, erreichte sie, ohne es zu merken, den Höhepunkt, die Spitze des wolkenverhangenen Bergs ihrer Krankheit.
Das Fieber ging zurück.
Danach schlief Julia richtig, ohne zu träumen, und als sie erwachte, spürte sie, wie wieder Kraft und Energie in ihre Knochen zurückkehrten. Sie setzte sich auf. Sie stand sogar auf – ein paar Sekunden lang. Dann ließ sie sich auf die Holzbank am Feuer plumpsen, um ihre steifen Beine und ihren schmerzenden Nacken zu massieren, bevor sie in ihrer Tasche zu wühlen begann.
Da. Julia checkte ihr Handy. Und seufzte. Der Akku war schon lange leer. Selbst wenn sie, wie durch ein Wunder, Empfang gehabt hätte, würde ihr das Handy nichts nützen.
Was sollte sie tun? In eine bestickte Decke gehüllt, schlurfte sie ans Fenster.
Wie der Regen war auch ihre Hoffnung endgültig zum Erliegen gekommen. Jake würde nicht mehr zurückkehren. Vielleicht war er schon tot. Sicher war er schon tot. Trotzdem musste sie zu ihm, und sei es nur, um nichts unversucht gelassen zu haben. So einfach würde sie jetzt nicht aufgeben. Sie war nicht umsonst so weit gekommen. Jetzt kehrtzumachen wäre ihr da fast pervers erschienen. Sie musste Jake helfen, und sie musste Chemda helfen. Das war ihre Pflicht.
Julia schaute nach draußen.
Auf den Dächern der Häuser waren im neuen Wintersonnenschein Maiskolben zum Trocknen ausgelegt. Im Hof sägten zwei tibetische Männer singend Holz. Ein fremdartiges Tanzlied. Und während Julia noch zu den Klängen der seltsamen Melodie das Tal hinaufblickte, nahm in ihrem Kopf eine Idee Gestalt an. Was sie jetzt vor allem brauchte, war ein Stromanschluss, und deshalb musste sie herausfinden, ob es irgendwo ein größeres Gebäude mit einem Stromgenerator gab, wo sie ihr Handy aufladen konnte.
Das größte Gebäude des Tals lag weit entfernt, war mehrstöckig und weiß gestrichen. Ein Kloster? Aus der Ferne sah es jedenfalls ein wenig wie der Potala-Palast in Lhasa aus.
Sie ging zu der alten Frau, die gerade Walnüsse knackte, und fragte sie nach dem großen Bauwerk am Ende des Tals. Die Alte zuckte mit den Achseln und lächelte verunsichert. Sie verstand nicht, was Julia von ihr wollte. Julia deutete und gestikulierte und radebrechte mit Händen und Füßen: Großes Haus. Dort hinten?
Zu ihrer Überraschung nickte die alte Frau und sagte mit einem strahlenden Lächeln: »Songzanlin!« Dann senkte sie wie ein betender buddhistischer Mönch den Kopf und machte dazu die entsprechenden Bewegungen.
Es war ein lamaistisches Kloster. Julia eilte die Treppe hinunter in die trockene, trockene Sonne hinaus. Sie fühlte sich von der Höhenluft immer noch leicht benommen, als sie sich von einem Jugendlichen auf seinem Motorrad in das karge graubraune Tal mitnehmen ließ. Sie wusste selbst nicht recht, was sie da eigentlich tat oder warum. Vielleicht würde in dem lamaistischen Kloster ein nicht existenter Gottvater zu ihr sprechen und sie leiten. Auf jeden Fall brauchte sie einen Stromanschluss für ihr Handy, und wenn es in dem verlassenen Tal irgendwo Strom gab, dann am ehesten in seinem wichtigsten Gebäude.
Die Fahrt dauerte frustrierende zwanzig Minuten. Vorbei an einer langen Reihe tibetischer Frauen, die, unter ihrer Last tief gebeugt, riesige Weidenkörbe mit Gras auf dem Rücken trugen.
Das Kloster Songzanlin schmiegte sich eng an einen Berghang, mehrstöckig und ausgebleicht und in der Sonne schimmernd wie stufenförmig ansteigende Schneeberge, wie die Berge, auf die es über die stark abfallenden braunen Felder hinwegblickte. Die uralte Treppe, die zu den weißen Klosterbauten hinaufführte, war steil und abgenutzt. Ein paar Pilger mühten sich auf Knien die archaischen Stufen hinauf. Ein Mönch in einer gelben Kutte spielte eine aus einem menschlichen Oberschenkelknochen gefertigte Trompete und pries den Himmel.
Julia stieg zu den
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