Bibel der Toten
spürte er am anderen Arm einen ähnlichen Einstich. Eine zweite lange Nadel, die sich unter seine Haut schob.
Nun befestigten die Männer Schläuche an den Nadeln. Starr vor Entsetzen beobachtete Jake sie bei der Arbeit. Er spürte das raue Leder der Gurte auf seiner Haut, sah die eingetrockneten Blutspritzer an der Decke. Es war wie in seinen Träumen, seinen schlimmsten Albträumen: die Zunge der krasue , die vielen Zungen der krasue , die sich tastend durch seinen Bauch wanden und an seinen Innereien leckten.
Mit einem beiläufigen Schnippen wurde der Apparat eingeschaltet. Er begann laut zu summen. Es war natürlich eine Pumpe. Eine elektrische Pumpe. Die Männer sahen einander an und zuckten mit den Achseln. Aufgabe erledigt.
Das Gerät schwankte ganz leicht hin und her, als es zu saugen und zu pumpen begann: eine kleine, aber wirksame Elektropumpe, die ihrer simplen Aufgabe nachkam.
Sich verzweifelt unter den Gurten windend, blickte Jake zu seinen festgeschnallten Füßen hinab. Am Fußende des eisernen Bettgestells standen mehrere voluminöse Glasbehälter, an deren Innenwänden dünne Rinnsale aus leuchtend rotem Blut hinabtroffen: riesige Flaschen, die sich langsam mit Blut füllten. Karaffen mit dickem rotem Blut.
Mit Jakes Blut.
Die Pumpe lief unbeirrt weiter.
Heiser hechelnd begann Jake, nach Luft zu schnappen, während die Maschine unaufhaltsam den Lebenssaft aus seinem Körper saugte. Und die Pumpe lief und lief. Unaufhörlich.
Jakes rasselnder Atem zirpte wie ein sterbendes Insekt.
38
E rschöpft und von heftigen Kopfschmerzen geplagt, harrte Julia zunehmend unruhiger in dem Haus an der Straße nach Balagezong aus. Zwei Tage lang stand sie jetzt schon wie eine besorgt auf die Heimkehr ihres Mannes wartende Fischersfrau frierend am Fenster und beobachtete die Hirten auf den steilen Bergpfaden. Einmal sah sie einen Mann, der ein riesiges schmutzig weißes Yakskelett mit roten und gelben Flecken auf dem Rücken trug.
Sie zählte die Steine auf den Dächern der Häuser, sie beobachtete die am blanken weißen Himmel schwebenden Schwarzhalskraniche.
Es waren Schuldbewusstsein und Entschlossenheit, die sie am Fenster auf Jake warten ließen. Als ihr Fieber weiter stieg, zog sie sich auf ihr Bett aus Stroh zurück. Halb bewusstlos, von heftigen Krämpfen geschüttelt, lauschte sie dem Knarren und Ächzen des tibetischen Bauernhauses mit seinen fremdartigen Gerüchen. Ihre eiskalten Glieder zitterten. Die zahnlose alte Frau flößte ihr aus einer blechernen Thermoskanne warmen Gerstenwein ein.
Julia verlor jedes Zeitgefühl. Einziger Hinweis, dass es Tag war, waren die Lichtspeere, die durch die Löcher und Ritzen der Holzbalkendecke auf die plattgedrückten Schweinegesichter fielen – und das ausgelassene Gelächter, das gelegentlich von draußen hereindrang. Und irgendwann gingen selbst diese gedämpften Geräusche in ein beständiges Rauschen aus Schmerz und Fieber über.
Von den Tieren im darunterliegenden Stall stieg der Geruch von Yakdung herauf. Das Fieber kroch immer tiefer in ihre Knochen. Der heiße Yakbutter-Tee schmeckte wie ihre eigene Galle. Wegen der Schmerzen blieb sie einfach liegen. Sie fühlte sich sehr verlassen. Weil niemand Englisch sprach, konnte sie mit niemandem reden. Die alte Frau und ihre Enkeltöchter kamen und gingen in ihren Träumen, Halbträumen, Tagträumen.
Männer kamen und gingen. Ein Franzose. Ein Amerikaner. Ein Engländer. Trotz des heftigen Schüttelfrosts war ihr noch bewusst, dass sie halluzinierte – es waren die tibetischen Männer, die am Abend in das Haus gestapft kamen, um ihre Hühnerfüße zu essen und die Knochen ins Feuer zu spucken, und sie hatten alle bedrohlich aussehende Dolche unter ihren Wamsen stecken. Manche warfen immer wieder neugierige Blicke zu der weißen Frau mit dem hellen Haar, zu der Frau, die in ihrem Haus starb; sie starrten auf ihren Bauch.
In ihren Fieberträumen fragte sie sich, ob sie durch sie hindurchsehen konnten – ob sie das fragile Skelett des Kindes sahen, das sie nie richtig gehabt hatte und das dennoch unauslöschlich in ihrem roten Uterus präsent blieb, wie der Sandsteinabdruck eines zart gefiederten jurazeitlichen Vogels. Wie ein Geisterbaby. Das Enkelkind, das sie ihren Eltern nie geschenkt, das Baby, das sie nach dem Vorfall in Sarnia abgetrieben hatte. Das Gespenst ihrer Schuld, das ihr auch nach so vielen Jahren noch und selbst am anderen Ende der Welt beharrlich auflauerte.
Ihre Träume verschwammen
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