Bibel der Toten
alle hochrangigen Roten Khmer. Er merkte, dass er, um die Säuberungen zu überleben und wieder auf einen grünen Zweig zu kommen, so tun müsste, als wäre er immer schon gegen die Kommunisten gewesen, ein entschiedener Gegner des Pol-Pot-Regimes.«
»Wie soll er denn das angestellt haben?«
Tyrone grinste wissend.
»Glaubst du etwa, da ist er der Einzige? Wie viele ehemalige Rote Khmer, meinst du wohl, sitzen heute wieder in der kambodschanischen Regierung? Einige der Dümmeren geben es sogar ganz offen zu – viele vertuschen es allerdings, die Gerisseneren wahrscheinlich. Außerdem ist eine solche politische Kehrtwende nichts Ungewöhnliches. Dieses Phänomen lässt sich überall auf der Welt beobachten. Die Regime wechseln zwar, aber das Personal bleibt dasselbe. Und in Kambodscha macht jeder bei diesem Täuschungsmanöver mit. Die Tragödie dieses Landes ist einfach zu gewaltig, um sie zu ertragen, das Leid zu groß, zwei Millionen Tote zu immens. Nur die Stummen und die Tauben überleben. Und der einzige Ausweg ist, zu überleben. Deshalb diese Konspiration des Leugnens, des Schweigens und des Akzeptierens der kollektiven Lügen.« Ty seufzte. »Das arme alte Kambodscha. Sie hätten aber auch nicht gleich so ausflippen müssen. Aber was sage ich, Schlitzaugen eben.«
Jake versuchte es mit einer Frage. »Und was bedeutet das für unsere aktuelle Situation?«
»Mit ein bisschen Hilfe habe ich mir schließlich alles zusammengereimt. Der Ärger ging anscheinend los, als Chemda, deine schöne, kluge, resolute kleine Khmer-Prinzessin …« Tyrones Augen leuchteten. »Der ganze Ärger ging los, als sie sich eingehender für die jüngste Vergangenheit Kambodschas zu interessieren begann. Als sie mit den Vereinten Nationen und den ›Versöhnungs‹-Tribunalen zusammenarbeitete und die ganzen Gräuel der Roten Khmer aufs Tapet brachte: die Babys, die sie gegen Bäume droschen, die Mönche, die sie bei lebendigem Leib verbrannten, die Menschen, die sie ins Meer warfen.«
»Das hat ihr Sen auszureden versucht.«
»Ja. Er war ganz und gar nicht begeistert, hat ihr dann aber doch ihren Willen gelassen. Wahrscheinlich rechnete er damit, dass ihr Idealismus bald nachlassen würde, dass sie einen jungen Mann kennenlernen und wie jede brave Khmer-Tochter eine Familie gründen und ihre Tätigkeit als Juristin aufgeben würde. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Und dann begann sie sich für die Ebene der Tonkrüge zu interessieren – und der Vergangenheit ihres Großvaters, seiner sorgfältig vertuschten Vorgeschichte, auf die Spur zu kommen.«
Jake sah seinen Freund an.
»Und die zwei Professoren in Laos?«
»Sie wurden massiv unter Druck gesetzt. Von Sen. Von ehemaligen Roten Khmer in Phnom Penh. Von den Laoten. Von allen Seiten. Und als sich Samnang umbrachte, dachte Sen, damit hätte sich die Sache und Chemda würde endlich Ruhe geben. Aber sie ließ bei den Telefongesprächen mit ihm keinen Zweifel daran, dass sie fest entschlossen war, weiterzumachen.«
»Deshalb beauftragte ihre mutter die Hexe damit, die kun krak in unseren Hotelzimmern aufzuhängen. Um ihr Angst zu machen«, sagte Jake.
Tyrone nickte nachdrücklich.
»Ja, das ist uns inzwischen allen klar. Madame Tek wusste, dass Chemda genauso abergläubisch ist wie sie. Deshalb engagierte sie die Spinnenhexe. Damit sie diesen Embryo-Hokuspokus veranstaltete.«
»Aber es hat alles nichts …«
»Genau. Es hat nichts genützt. Chemda ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Sie war weiterhin fest entschlossen, die Gräuel des Terrorregimes aufzudecken. Nur konnte sie nicht ahnen, dass sie, wenn die Schrecken der Vergangenheit an den Tag kämen … ihren Großvater entlarven würde. Und du kennst ja Chemda. Sie liebt Sen über alles. Eigentlich hat sie ihn als ihren richtigen Vater gesehen, und sie war umgekehrt Daddys kleiner Liebling.«
Unvermittelt stand Tyrone auf, ging auf die andere Seite des Zimmers und betrachtete ein Schaubild an der Wand. Eine Abbildung des menschlichen Gehirns.
»Sie liebt und bewundert ihren Großvater. Es wäre ein fürchterlicher Schock für sie, wenn sie erfahren würde, dass Großvater Sen ein Freund des Schlächters war. Und Ieng Sarys und Pol Pots. Umgekehrt scheint auch Sen sehr viel an der Liebe und Achtung seiner Enkeltochter zu liegen. Er wollte auf keinen Fall zur Hassfigur für sie werden und versuchte deshalb, sie mit allen Mitteln dazu zu bringen, Kambodscha zu verlassen und sich nicht mehr mit
Weitere Kostenlose Bücher